30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

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Namensbeitrag t-online 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

In Rostock-Lichtenhagen brach sich vor 30 Jahren der Rechtsextremismus Bahn. Die Staatsminister Reem Alabali-Radovan und Carsten Schneider ziehen sechs Lehren.

Gehen einer Gruppe von Minsterinnen und Minstern bei einer gemeinsamen Klausurtagung voran

Staatsministerin Alabali-Radovan und Staatsminister Carsten Schneider

Foto: Bundesregierung / Jesco Denzel

Es war reiner Zufall, dass niemand umkam in Rostock-Lichtenhagen vor dreißig Jahren. Drei Tage lang griff ein rasender, rassistischer Mob die "Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber" und das "Sonnenblumenhaus" für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter an. Unter dem Applaus der Nachbarschaft warfen die Randalierer Steine und Molotowcocktails. Dass die Polizei viel zu spät einschritt und nur wenige Täter verurteilt wurden, ist bis heute unfassbar. Der Pogrom muss ständige Mahnung und Auftrag zum politischen Handeln sein – nicht nur am Jahrestag. Das sind wir den Opfern und Betroffenen schuldig, unter ihnen auch viele Roma, deren Schicksal viel zu spät anerkannt wurde. Das sind wir unserer vielfältigen Gesellschaft schuldig.

Der blanke Hass im August 1992 war der vorläufige Höhepunkt einer Welle rechter Gewalt in Ost- und Westdeutschland. Drei Monate danach wurden Bahide Arslan, ihre Enkelin Yeliz und ihre Nichte Ayşe bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag in Mölln ermordet. 1993 starben fünf Mitglieder der Familie Genç in Solingen.

Als diese Taten verübt wurden, tobte in Medien, Politik und Gesellschaft eine hitzige Debatte über Einwanderung, Flucht und Asylrecht. In Umfragen nannte eine Mehrheit das "Ausländerproblem" als wichtigstes Thema. Parteien wie NPD, DVU und Republikaner gossen mit Warnungen vor einer "Asylantenflut" Öl ins Feuer.

In diesem Klima entschlossen sich die Stadtverwaltung und die Landesregierung im Sommer 1992, die katastrophalen Zustände in und vor der überfüllten "Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber" in Rostock-Lichtenhagen wochenlang zu ignorieren. Mit dem zum Teil offen ausgesprochenen Argument, sonst noch mehr Asylbewerbende anzuziehen. Rückblickend kaum zu glauben, dass Bundesinnenminister Seiters während der Ausschreitungen nicht über die Opfer redete, sondern vom "Missbrauch des Asylrechts".

Sechs Lehren aus Rostock-Lichtenhagen

Die Angriffe waren eine Schande, ein Tiefpunkt in der Geschichte unseres wiedervereinigten Landes. Wir müssen daraus die richtigen Lehren ziehen und entschlossen handeln. Sechs Punkte setzen wir dafür auf unsere Agenda im Bundeskanzleramt.

Erstens: Politik, Medien und wir alle sind verantwortlich für eine zivilisierte öffentliche Debatte. Gerade die Themen Flucht und Migration sind immer wieder emotional aufgeladen. Umso wichtiger ist eine Diskussionskultur des Respekts, bei der die Würde aller Menschen nicht infrage steht, Fakten anerkannt und demokratische Grundregeln akzeptiert werden. Die herausragende Solidarität mit Geflüchteten aus Syrien 2015 und der Ukraine 2022 zeigt, dass die Mehrheit in Deutschland Menschen in Not helfen will. Darauf können wir aufbauen, das wollen wir stärken. Ja, wir können unterschiedlicher Meinung sein, streiten, aber immer respektvoll und auf Augenhöhe. Ebenso müssen wir Haltung und Zivilcourage zeigen, wann immer Menschen ausgegrenzt oder angefeindet werden.

Zweitens: Der Staat muss geltende Regeln durchsetzen, Rassismus und Rechtsextremismus mit allen Mitteln bekämpfen. In den "Baseballschlägerjahren" (Christian Bangel) in den 1990er Jahren verübten Rechtsextremisten regelmäßig Anschläge, terrorisierten über Jahre ganze Dörfer und Städte. Gewalt gegen linke Jugendliche und die wenigen dort lebenden Menschen mit Einwanderungsgeschichte war an der Tagesordnung. Hier kam einiges zusammen: Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven, haltlose Elternhäuser und rassistische Gesinnungen. Zugleich war es eine Zeit der gefühlten Anarchie: Der alte Staat, die DDR, war zusammengebrochen, und der neue Staat hatte noch keine Autorität. Heute muss klar sein, dass Polizei und Justiz das staatliche Gewaltmonopol überall durchsetzen. Dafür müssen sie personell gut ausgestattet sein. Alle Beschäftigten müssen über jeden Zweifel erhaben sein: Verfassungsfeinde entfernen wir konsequent aus dem Öffentlichen Dienst, rassistische Chats und Racial Profiling dürfen keinen Platz in der Polizei haben.

Drittens: Bildung und Prävention sind das A und O, um den Nährboden von Rassismus auszutrocknen. Damit können wir nicht früh genug anfangen: Der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung gehört in jede Schule, das Wissen über die Baseballschlägerjahre, über den NSU, die Anschläge von München, Halle und Hanau, aber auch die Erinnerungskultur gehören in jeden Geschichtsunterricht. Zudem müssen eine moderne Sozialarbeit und gutes Quartiersmanagement das Zusammenwachsen stärken – in allen Nachbarschaften in Ost und West.

Viertens: Stärken wir die Zivilgesellschaft und ihre Strukturen. Rostock-Lichtenhagen war ein Weckruf. Viele haben sich seitdem in der Stadt und deutschlandweit dem Kampf gegen Rassismus und für unsere Demokratie verschrieben. Wichtige Initiativen sind entstanden, im Osten zum Beispiel die Mobilen Beratungsteams, die Betroffene von Rassismus unterstützen. Dass diese Teams mittlerweile auch in Westdeutschland arbeiten, liegt auch an der Förderung des Bundes. Programme wie "Demokratie leben!" sind in den vergangenen Jahren finanziell besser ausgestattet worden. Das ist gut so, das müssen wir ausbauen und endlich das Demokratiefördergesetz verabschieden. Damit die Engagierten in der Demokratiestärkung und Extremismusprävention langfristig arbeiten können. Ebenso wollen wir die Opfer-Beratungsstellen besser unterstützen und vernetzen.

Fünftens: Wir benötigen mehr Menschlichkeit statt Misstrauen im Asylrecht. Statt Geflüchtete zum Herumsitzen zu verdammen, sollten wir faire Perspektiven eröffnen. Mit dem Entwurf für ein Chancenaufenthaltsrecht haben wir den ersten Schritt gemacht. Wird es vom Bundestag beschlossen, erhalten viele langjährig Geduldete einen sicheren Aufenthalt und Zugang zu den Integrationskursen. Im Herbst legen wir nach, wollen Arbeitsverbote abschaffen und Asylverfahren beschleunigen.

Sechstens: Seien wir ein modernes Einwanderungsland auf der Höhe der Zeit. Viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben die Baseballschlägerjahre durchlitten, geschwiegen, einfach weitergelebt. Wir brauchen mehr Empathie, Respekt und Unterstützung für alle, die der Hass trifft. Und wir benötigen faire Chancen für alle 83 Millionen Menschen. Darum setzt unsere Politik auf Integration von Anfang an: bei der frühkindlichen Bildung, beim Sprachlernen, beim Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit. Und zwar für alle, in Ost und West, ob gerade eingewandert oder immer schon einheimisch. Zudem wollen wir mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen und den Familiennachzug verbessern.

Kein Zweifel, das sind große Herausforderungen, aber wir gehen sie an. Dabei gibt uns dreißig Jahre danach auch die Hansestadt Hoffnung. Rostock hat sich der Aufarbeitung gestellt, das Versagen von Politik, Polizei und Justiz in Untersuchungsausschüssen der Bürgerschaft und des Landtages öffentlich dokumentiert. Heute gilt die Hansestadt als weltoffen, auch dank lokaler Initiativen wie dem 1992 von der vietnamesischen Diaspora gegründeten Verein "Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach", dem Migrantenrat der Stadt oder dem Verein "Bunt statt Braun". Sie sorgen für Integration und Zusammenhalt in Rostock. Sie kämpfen gegen Rassismus, dezidiert auch gegen Antiziganismus.

Wir beide haben die Baseballschlägerjahre und ihre Folgen hautnah erlebt. Wir beide sind wegen rassistischer Anschläge in die Politik gegangen, wegen Rostock-Lichtenhagen 1992 beziehungsweise Hanau 2020. Weil wir uns gesagt haben: So kann es nicht weitergehen. Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus ist entscheidend für die Zukunft unseres Landes. Deshalb müssen wir die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Die wichtigste lautet vielleicht: Die wehrhafte Demokratie, das müssen wir alle sein, als starke Einheit in Vielfalt.

Die Autor:innen
Reem Alabali-Radovan (32 Jahre, SPD) ist Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Als Kind irakischer Eltern ist sie 1990 in Moskau geboren und 1996 mit ihrer Familie nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen. Carsten Schneider (46 Jahre, SPD) ist Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Er ist in Erfurt in Thüringen geboren.

Veröffentlicht auf t-online.de