- Interview mit
- Welt
WELT: Frau Staatsministerin, die Bundespolizei hat in Deutschland bereits über 300.000 ukrainische Flüchtlinge festgestellt. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie diesbezüglich?
Reem Alabali-Radovan: Im Vergleich zu 2015 haben wir große Fortschritte gemacht. Wir nehmen schnell und unbürokratisch auf, bieten Schutz und schaffen direkte Zugänge zu Beschäftigung und Integration. Da vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen zu uns kommen, stellen sich aber auch neue Herausforderungen.
WELT: Ohne Ehrenamtliche wäre die Unterbringung in den ersten Wochen des Kriegs kaum möglich gewesen. Inwieweit ist der Staat auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung angewiesen?
Alabali-Radovan: Natürlich muss der Staat die Aufnahmestrukturen schaffen, das haben wir auch getan. Aber das ehrenamtliche Engagement ermöglicht, was der Staat selber nicht leisten kann: persönliche Begegnungen vor Ort, individuelle Begleitung und die schönen Momente des Handreichens. Diese Solidarität ist großartig.
WELT: In mehreren Großstädten sind die Kapazitäten bereits erschöpft. Wie kann der Bund die Länder und Kommunen entlasten?
Alabali-Radovan: Über logistische Drehkreuze in Berlin, Cottbus und Hannover verteilt der Bund die Ankommenden, damit die Bundesländer sie gleichmäßig nach Königsteiner Schlüssel aufnehmen, also über die etablierte Verteilung nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder. Bund und Länder werden zudem am 7. April einen Beschluss fassen, welche finanzielle Unterstützung erfolgt. Dazu laufen die Gespräche.
WELT: Regionen, die über mehr Wohnraum verfügen, sind häufig strukturschwächer. Eine Integration in den Arbeitsmarkt ist dort schwieriger. Ist der Königsteiner Schlüssel bei der Verteilung das richtige Instrument oder sollten auch die Integrationschancen eine Rolle spielen?
Alabali-Radovan: Gut wäre, wenn wir in Zukunft beides kombinieren. Eine solidarische Verteilung ist wichtig. Andererseits sollten wir bei bestimmten Gruppen - wie zB Menschen mit Behinderung - genau hinschauen, wohin sie verteilt werden, damit sie die Strukturen vorfinden, die sie brauchen.
WELT: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) will alle Flüchtlinge aus der Ukraine bei der Einreise erkennungsdienstlich erfassen lassen. Die Bundesregierung lehnt dies bislang ab. Warum?
Alabali-Radovan: Geflüchtete, die über Polen kommen, werden bereits dort registriert. Wir möchten aus humanitären Gründen vermeiden, dass sich an unseren Grenzen erneut lange Warteschlangen bilden für erschöpfte Menschen, die vor Krieg und Bomben fliehen. Die Bundespolizei ist in den Zügen aus Polen oder Österreich stark präsent und stellt die Einreisen fest. Ebenso wird zeitnah in Ankunftszentren, Ausländerbehörden und Erstaufnahmen registriert, das läuft sehr gut.
WELT: Ein großer Teil der Flüchtlinge sind Kinder. Schon jetzt fehlen vielerorts Erzieherinnen und Lehrer. Was muss hier getan werden?
Alabali-Radovan: Für ankommende Erzieherinnen und Lehrkräfte sollten wir ein schnelles Anerkennungsverfahren ihrer Berufsabschlüsse aus der Ukraine auf den Weg bringen. Unsere Schulen haben Enormes geleistet in den vergangenen Jahren, jetzt müssen sie die Strukturen aus 2015 und Folgejahren wieder hochfahren, wie Willkommensklassen, DaZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprache) und reguläre Beschulung. Das wird ein Kraftakt, keine Frage.
WELT: Die ukrainische Generalkonsulin lehnt Unterricht in Willkommensklassen ab. Sie fordert von der Kultusministerkonferenz, dass man die ukrainischen Flüchtlingskinder in Deutschland nach dem ukrainischen Lehrplan unterrichtet.
Alabali-Radovan: Wir sehen, dass viele Kinder in Deutschland weiterhin mit ihren Lehrerinnen und Lehrern in der Ukraine per Online-Schulunterricht lernen, das ist beeindruckend. Aber niemand kann vorhersagen, wie lange die Kinder bei uns bleiben werden. Der Zugang in unser Schulsystem ist ein wichtiger Schritt für ein gutes Ankommen. Feste Strukturen und neue Freunde helfen den Kindern in dieser schwierigen Situation. Für Jugendliche, die kurz vor ihrem ukrainischen Abschluss stehen, sollte aber die Möglichkeit bestehen, diesen auch hier machen zu können.
WELT: Sollte es in Deutschland ein unkompliziertes Aufnahmeverfahren für russische Oppositionelle, Journalisten und Kriegsdienstverweigerer geben?
Alabali-Radovan: Russische Geflüchtete können innerhalb der EU jederzeit einen Asylantrag stellen, der individuell geprüft wird. Die vielen mutigen Menschen in Russland, die sich oft seit Jahren unter großen Gefahren für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, können auf unsere Unterstützung zählen.
WELT: Polen und Litauen vergeben humanitäre Visa an oppositionelle Russen. Eine Option für Deutschland?
Alabali-Radovan: Wir eröffnen ihnen Möglichkeiten, bei uns erst einmal anzukommen. Alles Weitere prüfen wir. Und wir wissen auch, dass für Menschen, die bereits hier in Deutschland sind, die Alternativen Asylantrag oder Ausreise oft zu kurz greifen.
WELT: Am Sonntag ist ein pro-russischer Autokorso mit etwa 900 Teilnehmern durch Berlin gefahren. Teilweise zeigten diese Symbole, die als Unterstützung für Russlands Angriffskrieg gelten. Wie bewerten Sie die Demonstration?
Alabali-Radovan: Ich verurteile das und bin fassungslos, dass so etwas hier stattfindet. Im Unterschied zu Russland haben wir Pressefreiheit und Zugang zu unabhängigen Quellen, die über die Kriegsverbrechen in der Ukraine berichten. Jeder kann und muss sehen, wie grausam Putins Krieg ist. Aber auch in den russischen Communities in Deutschland gibt es Desinformationskampagnen, manche schauen ausschließlich russisches Staatsfernsehen. Russische Propaganda kann dann auch die hier lebende Bevölkerung beeinflussen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde es versäumt, Diaspora-Communities konsequent mehrsprachig und niedrigschwellig anzusprechen, um gezielter zu informieren.
WELT: Laut einer repräsentativen Umfrage werden Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland deutlich positiver gesehen als diejenigen, die im Jahr 2015 hauptsächlich aus Syrien nach Deutschland kamen. Wie erklären Sie sich das?
Alabali-Radovan: 2015 habe ich in Mecklenburg-Vorpommern in der Erstaufnahmeeinrichtung gearbeitet, in der ich 1996 als Sechsjährige mit meinen Eltern angekommen war. Ich habe dort eine große Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur erlebt. Aktuell bin ich viel unterwegs und in meinen Gesprächen mit Schutzsuchenden aus anderen Regionen der Welt ist es ein großes Thema, dass sie sich als Flüchtlinge zweiter Klasse fühlen. Das darf nicht sein! Ich bin froh, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir auch für sie vereinfachte Zugänge für Aufenthalt und Integration schaffen wollen - das müssen wir nun auch schnell umsetzen.