Migrationsbeauftragte: Integration ist eine Daueraufgabe

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Interview Migrationsbeauftragte: Integration ist eine Daueraufgabe

Erneut erlebt Europa eine Flüchtlingskrise. Während tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, steigen in Deutschland die Asylgesuche und bringen Kommunen an die Belastungsgrenze. Wie kann das schon wieder passieren? Und welche Maßnahmen können Deutschland und die EU weiterbringen? Darüber hat SPD-Politikerin Reem Alabali-Radovan, Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, mit unserer Redaktion gesprochen
 

  • Interview mit
  • Neue Osnabrücker Zeitung

Frau Alabali-Radovan, Sie selbst haben eine Einwanderungsgeschichte: mit ihren Eltern sind Sie 1996 aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Da waren Sie sechs. Wie wurden Sie und Ihre Familie damals empfangen?
Wir kamen in einer Erstaufnahmeeinrichtung bei Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern unter. Für mich als Kind war das eher ein Abenteuer, ich habe gar nicht verstanden, worum es geht. Ich wurde direkt eingeschult. Anders als heute üblich, gab es keine Willkommensklassen. Von einer Unterstützung für geflüchtete Schüler konnte aber nicht die Rede sein. Wer kein Deutsch sprach, musste so lange die Klasse wiederholen, bis er oder sie die Sprache konnte. Im Bereich Schule gab es keine Willkommenskultur, da sind wir heute zum Glück ein großes Stück weiter.

Kurz bevor Sie nach Schwerin kamen, starben in Lübeck zehn Menschen bei einem Brandanschlag auf ein Heim für Asylsuchende. Auch in den Jahren zuvor gab es tödliche rassistische Angriffe in Deutschland wie in Solingen und Mölln. War das ein Thema in der Familie?
Ja, vor allem der Brandanschlag in Rostock-Lichtenhagen, obwohl der schon vier Jahre her war. Die Erstaufnahmeeinrichtung, in der wir unterkamen, war nur errichtet worden, weil die Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen wegen der Pogrome schließen musste. 

Hatte Ihre Familie Angst, selbst Opfer von rechter Gewalt zu werden?
Es gab bei uns auf jeden Fall eine gewisse Unsicherheit. Meine Eltern wollten nicht nur als Flüchtlinge hier leben, sondern auch arbeiten. Sie waren beide Diplomingenieure und wollten sich in Deutschland – dem Ingenieursland – mit ihren Kompetenzen einbringen. Bloß hat das nicht funktioniert.

Warum nicht?
Weil ihre ausländischen Studienabschlüsse damals nicht anerkannt wurden, dafür gab es kein Verfahren. Sie waren hochqualifiziert, galten aber als ungelernt, mussten komplett bei Null anfangen. 

Haben Sie als Kind und Jugendliche Rassismus erlebt?
Ja, wie sicherlich viele Menschen mit sichtbarer Einwanderungsgeschichte. Auch heute sind Rassismus und Diskriminierung Alltag für viel zu viele. Mein Lagebericht, den ich als Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung erstmals vorgelegt habe, zeigt das ganze Ausmaß und was jetzt zu tun ist.

Begegnen Ihnen heute noch rassistische Anfeindungen?
Es reicht sich, die Kommentarspalten auf meinen Social Media Kanälen anzuschauen. Da entlädt sich der ganze Hass, auch Rassismus, weil auch die Hemmschwelle niedriger ist.

Vergangene Woche erschien die “Mitte-Studie” der Friedrich-Ebert-Stiftung. Demnach sind 16 Prozent der Deutschen negativ gegenüber Ausländern eingestellt…
… und acht Prozent der Menschen haben ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild. Das ist eine Zahl, die uns alle besorgen muss. 

Was muss die Bundesregierung tun, damit sich rechtsextreme Einstellungen und Weltbilder zumindest nicht weiter verbreiten?
Wir müssen weiter gute Politik machen, die unser Land gesellschaftlich und wirtschaftlich voranbringt und den Zusammenhalt stärkt. Mit dem Demokratiefördergesetz haben wir einen Grundstein gelegt. Jeder und jede Einzelne ist zudem gefragt, klar und deutlich einzuschreiten, laut zu werden, gegen Hass und Hetze, Rassismus und Diskriminierung. Wenn ich im Land unterwegs bin, erlebe ich auch, dass es mancherorts kaum soziale Interaktionen zwischen Einwohnern und Eingewanderten gibt, auch weil Begegnungsmöglichkeiten fehlen. Dafür müssen wir Strukturen aufbauen, um Ängste und Vorurteile zu nehmen und Gemeinsames zu schaffen.

Als 2015 hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft zunächst groß. Im Frühjahr 2022 wurden die Menschen aus der Ukraine an den Bahnhöfen mit offenen Armen begrüßt. Von dieser Willkommenskultur ist kaum etwas übrig geblieben. Was ist passiert?
Bei der Aufnahme von Geflüchteten erlebe ich weiterhin eine große Solidarität, aber auch Sorgen. Die Kommunen leisten einen enormen Kraftakt. Und manche kommen an die Belastungsgrenze. Die Stimmung ändert sich, ist rauer, dafür ist auch der Ton in der Migrationsdebatte verantwortlich. Es werden Ressentiments geschürt und Falschbehauptungen aufgestellt, wie zuletzt durch Herrn Merz. Das legt die Axt an den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Die Solidarität für ukrainische Geflüchtete ist laut einer Untersuchung weiterhin hoch – höher als bei anderen Geflüchteten. Wie können Sie sich das erklären?
Zum einen ist da die geografische Nähe, der Krieg mitten in Europa. Als klar war, dass viele aus der Ukraine fliehen müssen, waren sich alle demokratischen Parteien einig: Wir müssen schnell und unkompliziert helfen. In der EU gab es erstmals ein gemeinsames flüchtlingspolitisches Vorgehen. Dadurch mussten Geflüchtete aus der Ukraine kein Asyl beantragen, hatten sofort Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnis. Auch das sorgt für eine höhere Solidarität. Ich finde, wir sollten dieses Vorgehen als Vorbild nehmen. Wir sehen, dass Integration besser funktionieren kann, wenn sie von Tag eins ermöglicht wird.

Aus mehreren Kommunen wird Frust gemeldet, viele ukrainische Flüchtlinge sollen sich wegen des Bürgergeldes nicht um Arbeit bemühen. Das Problem schildern auch zahlreiche Abgeordnete aus ihren Wahlkreisen… 
Natürlich wollen wir, dass die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt. Das gilt für alle, die sich langfristig in Deutschland aufhalten. Am Beispiel der Geflüchteten aus der Ukraine sehen wir: Das funktioniert nicht immer von heute auf morgen. Erstmal müssen die Menschen angekommen, viele haben Traumatisches erlebt. Dann müssen sie die deutsche Sprache lernen. Aber mehr als 300.000 Ukrainer waren oder sind im Integrations- und Sprachkurs, strengen sich richtig an. Verglichen zum Vorjahr gab es einen Anstieg um 55.000 Menschen oder 57 % bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus der Ukraine. 

Der Arbeitsmarkt könnte sich zugewanderten Menschen auch stärker öffnen.
Stimmt, aber Unternehmen sind grundsätzlich sehr offen. Dennoch wünsche ich mir etwas mehr Flexibilität. Oft finden Eingewanderte keine Arbeit, weil ein Zertifikat fehlt oder der Abschluss eines Sprachkurses noch aussteht. Doch Deutsch lernt man am besten in action - auf der Arbeit.   

Ist es womöglich an der Zeit, die Ungleichbehandlung ukrainischer und syrischer oder afghanischer Geflüchteter zu beenden, die ja erst Asyl beantragen müssen?
Wir sollten allen Geflüchteten niedrigschwellig, unkompliziert Integration ermöglichen. Dazu gehört die Abschaffung von Arbeitsverboten und der schnelle Zugang zum Integrationskurs.

Was sich zu 2015 nicht verändert hat: Im Mittelmeer ertrinken tausende Schutzsuchende, auf Lampedusa kommt gerade an Flüchtlingsboot nach dem anderen an, die Aufnahmelager sind überfüllt. Haben Deutschland und die Europäische Union nichts dazu gelernt?
Die EU hat es nicht geschafft, eine solidarische Flüchtlingsverteilung und humane Asylverfahren an den Außengrenzen zu ermöglichen, Fluchtursachen und Schlepper nachhaltig zu bekämpfen. Die Bundesregierung arbeitet in Brüssel hart dafür, dass sich das endlich ändert. Erstmals sieht es jetzt nach einer gemeinsamen Lösung aus, die genau das ermöglichen soll. Die Reform kann insbesondere zu einer fairen Verteilung und einheitlichen Standards führen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist hier gerade in intensiven Verhandlungen.

Sie meinen die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS. Zuletzt gab es noch Bedenken von den Grünen. Kommt die sogenannte Krisenverordnung vor der Europawahl im Juni noch zustande?
Die Bundesregierung hat wichtige Änderungen zum Schutz vulnerabler Gruppen wie Familien und Kinder und gegen die Herabsetzung von Aufnahmestandards in die Verordnung reinverhandelt. Zu dem überarbeiteten Vorschlag hat die Bundesregierung im EU-Rat Zustimmung signalisiert.

Durch die Reform sollen Moldau und Georgien als sichere Herkunftsstaaten ernannt werden. Würde das die angekündigte “Rückführungsoffensive” der Ampel überhaupt spürbar beschleunigen?
Es ist ein Baustein. Die Schutzquoten bei Georgien und Moldau sind gering und das Kabinett hat den Gesetzentwurf beschlossen, um Asylverfahren von Antragstellern aus beiden Staaten zu beschleunigen und den Aufenthalt bei einer Ablehnung schneller zu beenden.

Eine Verteilungsreform und Asylverfahren an den EU-Außengrenzen können die Lage verbessern. Aber es wird Jahre dauern, bis sie ihre volle Wirkung entfalten. Welche kurzfristigen Maßnahmen können helfen, die unkontrollierte Migration in den Griff zu bekommen.
Wir müssen an vielen Stellschrauben gleichzeitig drehen. Dazu zählen auch Migrationsabkommen. Momentan führen wir bilateral mit weiteren Drittstaaten intensive Gespräche, um vollziehbare Rückführungen zu erleichtern, gleichzeitig legale Wege für Arbeitsmigration zu ermöglichen. An unseren Grenzen setzen wir konsequent Schleierfahndung zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität ein. Wir müssen Asylverfahren weiter beschleunigen. Und letztlich geht es jetzt aber auch um vermeintlich banale Dinge wie die Digitalisierung der Ausländerbehörden.

Ihre Parteifreundin Nancy Faeser war lange gegen stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien. Jetzt ist die Bundesinnenministerin dafür. Woher kommt dieser Kurswechsel?
Es gab keinen Kurswechsel, die Option stationärer Kontrollen war immer auf dem Tisch. Jetzt gibt es eine Vereinbarung zu gemeinsamen Streifen der Bundespolizei mit unseren Nachbarländern, mit Polen und Tschechien. Klar ist: Grenzkontrollen sind ein wichtiger Schritt gegen Schleuserkriminalität. Wenn ich die Bilder von Transportern sehe, in denen Geflüchtete stehen, ohne Platz, ohne Luft, dann bin ich froh, dass die Bundespolizei diese Unmenschlichkeit verstärkt bekämpft.

Die Flüchtlingszahlen lassen sich so kaum senken.
Es gibt sie nicht, die EINE Lösung. Vielmehr müssen viele Maßnahmen ineinandergreifen und genau das setzt die Bundesregierung um.

Wie will die Bundesregierung denn sicherstellen, dass es an der Grenze zu den Nachbarstaaten nicht zu illegalen Zurückweisungen, sogenannten Pushbacks, kommt?
Die Bundesregierung ist in intensiven Gesprächen mit der EU und unseren Nachbarstaaten – um genau das an den EU-Außengrenzen zu verhindern. Aber ja, das ist ein großes Thema und es muss sichergestellt sein, dass es keine Pushbacks gibt, die sind menschenverachtend.

Was ist mit Obergrenzen, Mauern und Zäune? Viele fänden das vermutlich gut.
Das Gerede von Obergrenzen ist doch heiße Luft, vollkommen abwegig, zudem rechtswidrig, denn was würde mit einer syrischen Asylbewerberin geschehen, die Person Nummer 1 jenseits einer Obergrenze wäre? Solche Diskussionen heizen nur die Stimmung weiter an, entmenschlichen Geflüchtete. Es geht so nur noch um Zahlen, Massen, Ströme – die persönlichen Schicksale dahinter verschwinden.

Vor allem die Länder und Kommunen sind gefrustet – die Ampel weigerte sich lange, ihnen mehr Geld für die Flüchtlingsaufnahme bereitzustellen. Am Ende gab es nur einmalig für dieses Jahr eine Milliarde extra. Bräuchte es keine dauerhafte Regelung?
Aus meiner Sicht ist eines der größten Probleme, dass wir immer nur agieren, wenn die Krise da ist. Dann werden Strukturen hochgefahren, Projekte bewilligt, Gelder nach langem Streit verteilt. Integration ist aber eine Daueraufgabe. Um uns krisenfest zu machen, müssen Bund, Länder und Kommunen eng und verlässlich zusammenarbeiten. Das hat in der Vergangenheit nicht immer gut geklappt. Darum ist es gut, dass die nächste Ministerpräsidentenkonferenz dazu einen gemeinsamen Beschluss fassen will, auch zu Fragen der dauerhaften Finanzierung.  

Könnte eine Reform der Verteilung die Lage in den Kommunen entspannen? Aktuell werden Neuankömmlinge nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilen, das sich allein an der Einwohnerzahl der Länder und ihren Steuereinnahmen orientiert. Das Prinzip wird ja ständig kritisiert.
Der Königsteiner Schlüssel funktioniert grundsätzlich sehr gut, alle 16 Bundesländer erfüllen ihre Aufnahme-Quoten. Die Verteilung zwischen Fläche und Stadt, zentral oder in kleineren Einheiten, ist sicher noch ein Diskussionspunkt.

In der Asyldebatte findet eine Diskursverschiebung statt. Forderungen nach Obergrenzen lösen keinen großen Eklat mehr aus. Die Grünen-Chefin Ricarda Lang hat eigentlich immer für mehr Aufnahmen protestiert, heute macht sie sich für schnellere Abschiebungen stark. Welche Haltung hat sich bei Ihnen verändert?
Bevor ich in die Politik gegangen bin, habe ich in einer Erstaufnahme gearbeitet. Meine Haltung war schon immer klar: Wir müssen unserer humanitären Verantwortung gerecht werden, Schutz bieten und Integration gestalten. Gleichzeitig müssen wir Migration steuern und ordnen. Rückführungen müssen funktionieren und da sind auch freiwillige Rückkehrprogramme stärker zu nutzen, aus meiner Erfahrung funktionieren die sehr gut. Und dann müssen wir konsequent auf Integration setzen, damit alle, die bleiben, sich einbringen und eine vernünftige Zukunft haben. Da gibt es noch eine Menge zu tun.