Interview
Unsere Kinder wachsen längst in einer Gesellschaft der Vielfalt auf. Fast ein Drittel im Land hat eine familiäre Einwanderungsgeschichte, in urbanen Räumen rund die Hälfte. Das ist die Realität. Die Debatten der letzten Wochen zeigen jedoch, wie fragil wir aufgestellt sind, wenn es um unsere Selbstvergewisserung geht. Wir sind als Gesellschaft nicht gut darin, Debatten auszuhalten, ohne in „Die“ und „Wir“ einzuteilen, gleich mit Ausbürgerung und Abschiebung zu drohen.
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„Wenn es hart auf hart kommt, gehören wir nicht dazu.“ Dieser Eindruck drängt sich vielen Menschen mit Einwanderungsgeschichte auf. Auch mir. Immer offener zeigt sich eine tiefe Sehnsucht nach nationaler und ethnischer Homogenität. Vieles, was wir als Gesellschaft in den letzten Jahren erreicht haben, ist akut gefährdet. Das Narrativ von der „Migration als Mutter aller Probleme“ ist zurück: Die Vielfalt unserer Gesellschaft wird nicht als Normal-, sondern Störfall deutscher Geschichte betrachtet.
Mir macht es große Sorgen, wenn ganze Gruppen in Mithaftung genommen werden – sei es in den Debatten um den Hamas-Jubel auf unseren Straßen, bei Silvester-Krawallen oder Freibad-Eskalationen. Dann geht es nicht um die Straftaten Einzelner, die konsequent und hart bestraft gehören, dann geht es um die „falsche“ Kultur und Religion.
Diese polarisierenden Debatten treffen über 20 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte in unserem Land. Ihre Zugehörigkeit wird immer wieder aufs Neue infrage gestellt, weil Populistinnen und Populisten den schnellen, politischen Geländegewinn wollen.
Dabei vermisse ich das laute und entschlossene Dagegenhalten. Reflexhaft wird Menschen das Deutschsein abgesprochen. Das trifft alle gleichermaßen: Geflüchtete, die IT-Fachkraft oder die Staatsministerin. Viele fühlen sich nicht gesehen und gehört, haben Angst. Das dürfen wir nicht zulassen.
Einwanderungsland zu sein, bedeutet auch Verantwortung, die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten. Das geht nicht ohne Reibung. Wir müssen endlich anerkennen, dass Menschen in unserem Land mehr als eine Identität in sich tragen können. Das merken wir insbesondere jetzt. Schon längst haben globale Konflikte immer auch Auswirkungen auf das hiesige Zusammenleben, das gehört dazu.
Oft wird jedoch eine Entweder-Oder-Haltung formuliert: Entweder gegen Rassismus oder Antisemitismus, entweder Solidarität mit Israel oder Palästina. Klar ist: Der Kampf gegen Rassismus kann nur mit einer unbedingten Ächtung von Antisemitismus einhergehen – und umgekehrt. Beides muss Hand in Hand gehen und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Eine Gesellschaft der Vielfalt muss eine solidarische Gesellschaft sein und Pluralität aushalten. Man kann und muss für den Schutz von Jüdinnen und Juden einstehen, ohne rassistische Ressentiments gegen Musliminnen und Muslime zu bedienen. Und wir können bestürzt über die Lage in Gaza sein, ohne den Hamas-Terror zu relativieren. Selbstverständlich sind alle in unserem Land auf das Grundgesetz verpflichtet, unabhängig vom Geburtsort – ohne Ausnahme.
Über Generationen hinweg haben wir jedoch die Vorstellung gehabt, dass Integration bedeutet, die eigene Identität abzugeben. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv. Der Blick auf große Einwanderungsländer zeigt: es ist an der Zeit, dass wir erfolgreiche Integration nicht als Aufgeben der eigenen Identität verstehen, sondern die Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt verinnerlichen.
Nach Jahrzehnten spaltender Abwehrkämpfe braucht es ein mutiges, positives Mindset für Einwanderung und Integration – ein klares Bekenntnis: Ja, Deutschland ist Einwanderungsland, war es immer schon, das ist unsere Stärke, seien wir stolz darauf! Der Reichtum unserer Einwanderungsgeschichte gehört endlich in das kollektive Gedächtnis unseres Landes.
Neues Mindset bedeutet faire Chancen und Zugehörigkeit für alle 84 Millionen. Es muss Schluss sein mit dem Einteilen in Migrationshintergründe. Es gibt keine Deutschen zweiter Klasse oder auf Widerruf.
Vielleicht zeigt der erbitterte Streit aber auch die letzten Rückzugsgefechte jener Kräfte, die nicht akzeptieren, was Deutschland 2023 längst ist: weltoffen und progressiv, Vielfalt statt Einfalt, mit vielen Stimmen, die selbstverständlich Partizipation, Repräsentation und gleiche Chancen einfordern. Jetzt ist eine neue Zeit, mit Respekt für alle in unserem modernen Einwanderungsland. Wir brauchen ein neues deutsches Wir-Gefühl, für eine selbstbewusste Einwanderungsgesellschaft.
Reem Alabali-Radovan ist Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie für Antirassismus.