Interview
- Ein Beitrag von
- Frankfurter Rundschau
Stellen Sie sich vor, heute früh, nachdem Ihr Wecker geklingelt hat, wollen Sie das Licht anmachen. Aber es passiert nichts, wenn Sie den Schalter drücken. Sie wollen Zähne putzen, aber es fließt kein Wasser. Der Bäcker hat keine Brötchen. Der Bus fährt nicht, die U-Bahn auch nicht. Die Eltern rufen an: Ihre Hausarztpraxis ist geschlossen. Und so geht es weiter. Das würde passieren, wenn alle Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte in unserem Land einfach aussetzen würden, mal einen Tag nicht da wären. Unser Land würde stillstehen.
Solidarität statt Populismus – es gibt keine einfachen Lösungen in der Migration
Das heißt nicht, dass es keine Probleme gibt. Migration und Flucht stellen Staat und Gesellschaft in Deutschland und weltweit vor Herausforderungen. Abschottung, Ober- und Integrationsgrenzen sind keine Lösung, sondern Populismus. Stattdessen müssen wir die Herausforderungen entschlossen angehen.
Das beginnt mit einer starken Entwicklungspolitik, die Krisen und Konflikten vorbeugt und Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben für Vertriebene schafft. Es geht über eine gerechte Verteilung innerhalb Europas und endet bei einer verlässlichen und fairen Integrationspolitik, die auf Humanität und Ordnung beruht, die Eingewanderten Chancen gibt: den schnellen Zugang zu Jobs, die Möglichkeit, Deutsch zu lernen und sich in unserer Gesellschaft einzubringen.
Migrationsdebatte, aber sachlich – Emotionalisierung ist keine Lösungsfindung
Mehr denn je gilt es, die aufgeheizte Debatte zu versachlichen. Weltweit sind 114 Millionen Menschen auf der Flucht, davon mehr als die Hälfte Binnenvertriebene, die nie eine Grenze überschreiten. Von denjenigen, die über eine Grenze fliehen, suchen 80 Prozent Schutz in einem Nachbarland – zu zwei Dritteln sind das Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Diese Länder, die selbst wenig haben, tragen die Hauptlast bei der Aufnahme der Flüchtlinge.
Zum Beispiel Jordanien, das weltweit einen der höchsten Flüchtlingsanteile pro Kopf hat: Das Land kann die Versorgung kaum alleine schultern. Wo sollen die geflüchteten Menschen hin, wenn es für sie nicht mehr genug sauberes Wasser und zu wenig Essen gibt? Darum sind wir überzeugt: Die Unterstützung von Aufnahmeländern wie Jordanien ist ein wichtiger Baustein einer ehrlichen und effizienten Migrationspolitik.
Mit der richtigen Politik profitiert auch Deutschland von Migration
Anders als manche Erzählung gerade glauben macht, beginnt Flucht- und Migrationspolitik nicht an der europäischen oder deutschen Grenze. Damit sie funktioniert, muss sie so gestaltet sein, dass sie allen zugutekommt: den Herkunftsstaaten, den aufnehmenden Ländern, den Flüchtlingen und Migrantinnen sowie Migranten.
Entscheidend ist die Beteiligung der Menschen, um die es geht. Auch hier in Deutschland, mit Integration und Teilhabe durch Arbeit von Anfang an. Hier sollten Diaspora-Organisationen noch stärker einbezogen werden. Vor allem die Perspektive der Frauen und Mädchen ist wichtig. Gerade im Migrationskontext sind oft sie die Starken und Anpassungsfähigen, die mit ihren Ideen zu Veränderungen beitragen.
Wertschätzung nötig: Migration bringt unsere Gesellschaft voran
Bereits jetzt funktioniert ein Großteil unserer Gesellschaft nur mit und dank der Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte. Deutschland wird zukünftig noch viel mehr Menschen für ein Leben und Arbeiten gewinnen müssen. Darum schaffen wir als Bundesregierung die Voraussetzungen für ein modernes Einwanderungsland: mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und dem Staatsangehörigkeitsgesetz.
Aber die besten Paragraphen bringen nichts, wenn wir nicht auch wertschätzen, willkommen heißen, Zugehörigkeit schaffen. Das heißt auch: Rassismus stoppen, ausländische Berufsabschlüsse besser anerkennen, Behördengänge smart gestalten, so oft es geht digital. Damit Arbeits- und Fachkräfte aus anderen Ländern hierher kommen wollen. Statt gegen Migration zu wettern, müssen wir sie gestalten. In Deutschland brauchen wir eine faktenbasierte Debatte. Damit eine humane und effiziente Migrationspolitik gelingen kann.
Svenja Schulze ist Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Reem Alabali-Radovan ist Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Antirassismus. Beide sind für die SPD im Bundestag.