Die Migrationsbeauftragte im Interview: „Integrationsgrenze ist nur ein nett verpacktes Wort für Asyl-Obergrenze“

  • Startseite
  • Staatsministerin

  • Ich möchte mehr wissen über

  • Integrationsarbeit in den Bereichen

  • Medien

  • So erreichen Sie uns

Frau Alabali-Radovan, Sie haben kürzlich in einem Gastbeitrag geschrieben: „Wenn es hart auf hart kommt, gehören wir nicht dazu.“ Damit haben Sie die Migranten im Land gemeint und sich selbst  eingeschlossen. Warum gilt das auch für eine Staatsministerin im Kanzleramt?
Auf der Straße erkennt niemand, ob man gerade nach Deutschland geflüchtet, als hochqualifizierte Fachkraft eingewandert ist oder als Staatsministerin im Kanzleramt arbeitet. Ich nehme den raueren Ton genauso wahr wie viele andere migrantische Menschen im Land auch. Auch ich kenne Ablehnung.

Seit wann ist das so?
Zugenommen hat das spätestens mit den Silvesterkrawallen zu Beginn des Jahres, als Menschen nach ihren Vornamen bewertet werden sollten. Inzwischen zieht sich das durch die gesamte Debatte über Migration und Flucht: Der Ton in der politischen Debatte hat sich deutlich verändert und ist oft von Populismus geprägt. So etwas wie „Deutsche ausbürgern“ oder „Migranten auch mit physischer Gewalt aus Europa fernhalten“ hätte man vor drei Jahren noch nicht von der demokratischen Opposition gehört.

Im Mai 2015 sind Sie als Mitarbeiterin in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Horst zurückgekehrt, in die Sie 1996 mit Ihren Eltern kamen. Heute sind Sie als Staatsministerin für das Thema Flucht verantwortlich. Geht es den Flüchtlingen heute besser als in den Neunzigern?
Zu der Zeit als meine Familie nach Deutschland kam, gab es ähnlich viele Geflüchtete wie heute und auch einen Rechtsruck im Land. Allerdings ist seitdem politisch viel passiert. Wir sind in Deutschland viel besser aufgestellt als in den 90er Jahren. Es gab damals zum Beispiel keine Integrationskurse, so gut wie keine Chance zum Arbeiten. Und Regeln, deren Sinn sich nicht erschließt: Meine Eltern sind zusammen geflohen, aber nur einer von ihnen durfte einen weiterführenden Sprachkurs machen.

Gerade wird über die Kürzung von Sozialleistungen, die Umwandlung der Versorgung in Sachleistungen und härtere Wohnsitzauflagen diskutiert. Geht es Geflüchteten in Deutschland demnach zu gut?
Nein, absolut nicht. Menschen, die hier ankommen, müssen komplett von vorn anfangen. Sie haben oft traumatisierende Erfahrungen hinter sich. Wir sollten niemals davon sprechen, dass es Menschen zu gut geht, die zu uns geflohen sind. Sie erhalten das Existenzminimum.

Die Bundesregierung hat sich darauf geeinigt, dass Bezahlkarten in Erstaufnahmeeinrichtungen Standard werden sollen. Was halten Sie davon?
Bezahlkarten dürfen nicht zu Diskriminierung führen. Es darf nicht sein, dass Menschen durch Bezahlkarten in Läden als Geflüchtete identifizierbar sind. Andere Modelle kann ich mir eher vorstellen: Bezahlkarten gängiger Banken zum Beispiel. Bund und Länder haben vereinbart, bis Ende Januar ein passendes Modell zu erarbeiten.

Die Bundesregierung legt den Fokus der Migrationsarbeit gerade sehr klar auf Abschiebungen, finden wir.
Den Eindruck haben viele, weil öffentlich nur noch darüber geredet wird. Aber da ist noch viel mehr: Wir haben viele Gesetze im Bereich Asyl, Migration und Integration beschlossen. Mit als Erstes haben wir das Chancen-Aufenthaltsrecht auf den Weg gebracht, dann das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz, jetzt reformieren wir das Staatsbürgerschaftsrecht. Auch im Rückführungspaket für konsequentes Umsetzen der Ausreisepflicht haben wir vereinbart: Arbeitsverbote für Asylbewerbende und Geduldete sollen weiter abgeschafft werden. Dafür habe ich mich stark eingesetzt.

Nach Deutschland sind in diesem Jahr so viele Geflüchtete gekommen, dass viele in Massenunterkünften leben, Sprachkurse sind überfüllt, auch Kita- und Schulplätze sind knapp. Gibt es nicht tatsächlich irgendwann eine Integrationsgrenze, wie der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder das genannt hat?
Die Integrationsgrenze ist nur ein nett verpacktes Wort für Asyl-Obergrenze. Das ist rechtlich nicht möglich. Es gibt ein individuelles Recht, nach Asyl bei uns zu suchen. Dieses Recht hat keine Obergrenze. Viele strukturelle Probleme in den Kommunen betreffen aber alle Menschen: fehlender Wohnraum, fehlende Kita-Plätze, zu wenige Lehrerinnen und Lehrer. Wir sollten nicht über Integrationsgrenzen sprechen, sondern hart dafür arbeiten, dass wir die Infrastrukur wieder auf Vordermann bringen. Das würde allen in Deutschland lebenden Menschen helfen.

Wie soll das gelingen?
Zunächst brauchen wir ein deutlich besseres, faires Verteilsystem innerhalb der Europäischen Union. Für Asylsuchende, aber wir müssen auch auf ukrainische Kriegsflüchtlinge schauen: Frankreich hat keine 100.000 Menschen aufgenommen, Deutschland mehr als eine Million. Wir müssen auch innerhalb Deutschlands schauen, dass wir wegkommen von der reinen Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel, der sich starr nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl bemisst.

Was schwebt Ihnen stattdessen vor?
Vorstellbar ist, dass man stärker einerseits nach den Unterbringungskapazitäten direkt in den Kommunen und nicht nur auf Landesebene schaut. Andererseits sollte es auch um die Wirtschaftskraft und Kapazitäten des Arbeitsmarkts vor Ort gehen. Damit die Menschen dort wohnen, wo sie sich von Anfang an auch am Arbeitsmarkt einbringen können.

Deutschland war stolz darauf, viele Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen. Inzwischen geht es oft darum, dass so wenige von ihnen arbeiten. Sind die Hürden in Deutschland, um Arbeit aufzunehmen, oder die Sozialleistungen für Ukrainer zu hoch?
Aus meiner Sicht sind die Hürden, um eine Arbeit aufzunehmen, sehr hoch, trotz rechtlichen Zugangs. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil jetzt den Job-Turbo zündet: Alle bekommen regelmäßige Einladungen des Jobcenters, ihre Qualifikationen werden sofort erfasst, das Matching mit Unternehmen startet schon während des Integrationskurses.

In den Niederlanden arbeiten Zweidrittel der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, hier nicht einmal 20 Prozent. Allein die Versorgung der Ukrainer mit Bürgergeld soll 2024 rund sechs Milliarden Euro kosten. Was macht Deutschland falsch?
Zunächst einmal sind in Deutschland viele noch im Integrationskurs oder in Maßnahmen für ihre Arbeitsmarkt-Integration. Erst vergangene Woche habe ich mich mit ukrainischen Frauen getroffen. Ein großes Thema ist die Sprache. In den Niederlanden wird sehr viel Englisch gesprochen, das ist hier in Deutschland häufig nicht so. In Deutschland bestehen viele Arbeitgeber noch auf ein Sprachzertifikat, bevor sie Menschen überhaupt zu Bewerbungsgesprächen einladen. Das ist für die Ukrainerinnen eine riesige Hürde. Vielen Menschen werden in Deutschland dann vor allem Jobs im Niedriglohnsektor angeboten, obwohl sie hochqualifiziert sind. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Ich weiß, wie schwer das für alle ist, diese Jobs anzunehmen. Was nicht geht ist, dass Unternehmen allenthalben den Fachkräftemangel beklagen dann aber selber Hürden aufstellen. Hier würde ich mir mehr Flexibilität bei Unternhemen und Betrieben wünschen.

Wie war das bei Ihren Eltern?
Bei meinen hochqualifizierten Eltern wurden die russischen Abschlüsse als Diplom-Ingenieure nicht anerkannt. Meine Mutter arbeitet noch heute im Einzelhandel, verdient Mindestlohn. Immerhin sind es jetzt 12 Euro pro Stunde, das hat die SPD durchgesetzt. Mein Vater ist Rentner. Er war selbstständig in der Gastronomie. Deutschland hat meine Eltern nie für das anerkannt, was sie konnten. Wenn wir in Zukunft mehr Fachkräfte für unser Land gewinnen wollen, müssen wir endlich ihre Leistung und Potenziale wertschätzen.

Jetzt haben wir viel über die Perspektive der Geflüchteten gesprochen. Politik muss das eigene Handeln aber auch legitimieren, dafür Akzeptanz bei einer Mehrheit der Bevölkerung schaffen. Wie wichtig ist für die Akzeptanz, dass möglichst viele Flüchtlinge arbeiten?
Das ist ein ganz zentraler Punkt, das belegen auch alle Umfragen. Für die Geflüchteten ermöglicht eine Arbeit eine schnelle Integration in die Gesellschaft. Auch für die Akzeptanz ist das wichtig, weil Geflüchtete plötzlich Kolleginnen und Kollegen sind. Arbeit ermöglicht gegenseitiges Kennenlernen. Wir haben hier auch Erfolge: 657.000 Menschen aus Asyl-Hauptherkunftsländern arbeiten, die meisten sozialversicherungspflichtig, zahlen Steuern. Außerdem ist der Anstieg bei den Erwerbstätigen in unserem Land seit über einem Jahr komplett, zu 100 Prozent, auf Ausländer zurückzuführen.

Flüchtlinge sollen schon an der EU-Außengrenze geprüft werden. Dann kommen Sie erst gar nicht ins Land. Warum ist das die richtige Lösung?
In den Plänen für die Reform des europäischen Asylsystems ist verabredet, dass wir schauen, welche Geflüchteten an der Außengrenze aufgehalten werden. Vulnerable Gruppen, also z.B. Familien mit Kindern, sollten, nicht in Außen-Grenzeinrichtungen festgehalten werden. Generell gilt: Wir müssen dort für faire, rechtsstaatliche Verfahren und für menschenwürdige Unterbringung sorgen. Wenn das garantiert ist, kann man das machen.

Seenotrettung ist womöglich in Gefahr wegen einer juristischen Rechtsänderung im Rückführungspaket. Wie kann das einer sozialdemokratischen Innenministerin passieren?
Für mich als Beauftragte der Bundesregierung ist klar: Seenotretter dürfen nicht kriminalisiert werden. Sie retten Menschenleben. Das Bundesinnenministerium hat inzwischen klargestellt, dass die Gefahr der Verurteilung als Schleuser nicht besteht.

Wird aus der Willkommenskultur gerade eine Rückführungskultur?
In den Debatten liegt der Fokus oft auf Rückführungen. Obwohl die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen viel geringer ist als die der Schutzberechtigten oder der Fachkräfte, die wir dringend gewinnen müssen. Aus einem proklamierten Einwanderungsland muss eine Einwanderungsgesellschaft werden. Da haben wir noch Arbeit vor uns. Wir brauchen ein neues deutsches Wir-Gefühl im Land.

In Deutschland fehlen 800.000 Fachkräfte bis 2030 allein im öffentlichen Dienst, es fehlen schon jetzt 400.000 Fachkräfte, um den demografischen Wandel auszugleichen. Gerade kommen 40.000 Menschen im Jahr. Ist Deutschland in Wahrheit ein einwanderungsfeindliches Land geworden? 
Nein. Wir können durch unser neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit den großen Einwanderungsländern wie den USA oder Kanadas mithalten. Wir bringen jetzt das modernste Staatsangehörigkeitsrecht, das wir je hatten, auf den Weg. Aber natürlich müssen wir darauf achten, wie wir über Migration in Deutschland diskutieren, und das unabhängig davon, wen wir meinen. Es gibt Umfragen unter Expats, die sehen uns, was die Beliebtheit unter internationalen Fachkräften angeht, auf Platz 49 von 52.

Für Fachkräfte ist Deutschland oft weniger interessant, für Geflüchtete in Europa aber schon. Setzen wir Fehlanreize?
Das würde ich nicht sagen, es kommen ja auch jährlich hunderttausende EU-Bürgerinnen und -Bürger zum Arbeiten nach Deutschland. 100 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht, der größte Teil der Geflüchteten als Binnenflüchtlinge im eigenen Land oder in den Nachbarländern. Ich kann das anhand meiner Geschichte erzählen: Dänemark und Schweden haben damals viel mehr Menschen aufgenommen als Deutschland. Wir hatten dort auch Verwandtschaft, dort wurden mehr Sozialleistungen gezahlt. Aber meine Eltern haben sich für Deutschland entschieden, weil Deutschland eine so große Wirtschaftsnation ist, weil es ein sicheres Land ist, und sie die Hoffnung hatten, dass sie sich hier am ehesten einbringen können. 

Wie erlebten Sie Ihre Einbürgerung?
Es war ein langwieriger Prozess. Das fehlt mir in der Debatte derzeit: Menschen brauchen unglaublich viel Kraft, müssen sich mit der Bürokratie zurechtfinden, Dokumente sammeln und oft sehr lange warten. Die Hürden sind weiterhin hoch, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Bei uns war zum Beispiel die Sicherung des Lebensunterhalts ein wichtiges Thema. Meine Eltern haben gearbeitet, aber mit niedrigem Lohn, weil ihre Abschlüsse ja nicht anerkannt wurden. Sie haben also hart dafür gekämpft, alle Voraussetzungen zu erfüllen. Als der Moment der Einbürgerung kam, war es ein reiner Verwaltungsakt. Wir haben die Pässe von der Sachbearbeiterin einfach in die Hand gedrückt bekommen. Ich finde es deshalb gut, dass wir jetzt richtige Einbürgerungsfeiern in die Reform aufgenommen haben.

Für Sie war es also mehr als ein Verwaltungsakt?
Natürlich, für uns war das ein großartiger Moment. Es hieß, dass wir vollwertiger Teil der Gesellschaft sind. Dass wir wählen dürfen. Dass wir in Sicherheit waren. Dass wir uns frei bewegen können, dass wir meine Verwandten in den USA besuchen können, die meine Eltern teilweise 20 oder 30 Jahre nicht gesehen hatten. Ich konnte das erste Mal meine Großmutter sehen, weil ich Deutsche war. 

Sollten sich Menschen zum Existenzrecht Israels bekennen, wenn sie eingebürgert werden? 
Wer eingebürgert wird, muss sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Das steht schon jetzt im Gesetz und muss nicht extra hineingeschrieben werden. Ich finde es darüber hinaus richtig, dass der Paragraph noch einmal präzisiert wird: Menschen, die antisemitische oder rassistische Handlungen begangen haben, dürfen nicht eingebürgert werden.

Wie erklären Sie sich die immensen Widerstände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft?
Das liegt auch an der populistischen Debatte. Die CDU hat sich offenbar entschieden, zurück in die Neunziger zugehen. Das erinnert gerade sehr an die "Kinder statt Inder"-Kampagne von Jürgen Rüttgers. Ich hätte gedacht, dass die CDU in der Lebensrealität einer Einwanderungsgesellschaft angekommen ist. Wir müssen noch besser erklären, warum wir für die doppelte Staatsbürgerschaft sind: Die Realität ist doch, dass man mehrere Identitäten haben kann. Wir hatten auch im EU-Vergleich ein sehr veraltetes Staatsbürgerrecht.

In der AfD, aber auch in Teilen der Union heißt es, der deutsche Pass werde verramscht.
Das ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in diesem Land. Wir reden hier über Leute, die in der dritten Generation hier leben und hier geboren sind, die noch immer keine deutschen Staatsbürger sind. Das Verhältnis zu Deutschland ändert sich doch nicht durch mehrere Staatsbürgerschaften. Das werfen wir doch allen EU-Bürgern, die diese längst haben, auch nicht vor.