Interview
- Interview mit
- Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND)
Kommunen und Länder schlagen Alarm: Wieder werden Turnhallen zu Massenunterkünften umgebaut, wieder werden Zeltstädte errichtet. Was können Sie und Frau Faeser den Kommunalverbände beim Flüchtlingsgipfel am Dienstag anbieten?
Reem Alabali-Radovan: Der Bund hat bei der vergangenen Ministerpräsidentenkonferenz seine Mitverantwortung bei der Finanzierung der Unterbringung Geflüchteter deutlich bekräftigt. Diese Verantwortung nimmt der Bund bereits jetzt in erheblichem Maße wahr. Spätestens bis zur der nächsten Bund-Länder-Runde müssen die Finanzierungsfragen abschließend geklärt werden. Bei den laufenden Gesprächen geht es auch um die Verteilung der Geflüchteten, orientiert am Königsteiner Schlüssel.
In den vergangenen Wochen hat zum Teil die Mehrzahl der Bundesländer Sperren im Verteilungssystem eingetragen, teilweise über mehrere Wochen – ist das vorbei?
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Länder sich zeitweise aus dem System ausklinken, wenn sie an Kapazitätsgrenzen kommen. Aufnahme und Verteilung laufen im Großen und Ganzen gut, aber nicht immer und nicht überall. Wir nehmen die Sorgen der Kommunen sehr ernst. Es ist eine große, gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen.
Sie treffen sich mit den kommunalen Spitzenverbänden. Auch einige Bundesländer wären gerne dabei und möchten auch über Geld reden, nicht nur über die Verteilung. Warum geht das nicht?
Die Länder sind bei dem Spitzengespräch dabei Es geht um Fragen zu Ankunft, Unterkunft und Steuerung. Finanziell unterstützt der Bund bereits in erheblichem Maße – rund zwei Milliarden Euro wurden bereits im April zugesagt - und es ist eine erhebliche Entlastung für die Länder, dass die ukrainischen Geflüchteten wie Grundsicherungsempfänger behandelt werden, deren Kosten der Bund übernimmt. Zudem stellt der Bund mehr als 300 Liegenschaften zur Verfügung. Im gemeinsamen Gespräch wird es darum gehen, wo weitere Unterstützung nötig ist.
Befürchten Sie neue Fluchtbewegungen aus der Ukraine, wenn der Winter naht? Sind wir darauf vorbereitet?
Zurzeit sind die Zahlen der neu ankommenden Geflüchteten aus der Ukraine weiter rückläufig, rund 150 pro Tag, aber ein harter Kriegswinter kann das ändern. Eine veränderte Fluchtbewegung trifft zunächst die direkten Nachbarn Polen und Tschechien, das haben wir in den vergangenen Monaten gesehen. Wir müssen daher in engem Austausch mit unseren Nachbarländern bleiben und bereit sein zur weiteren Aufnahme von Menschen, die vor Krieg und großer Not aus der Ukraine fliehen.
Polen und die anderen Nachbarländer der Ukraine haben Unglaubliches geleistet bei der Aufnahme der Ukrainer. Bei der neuen Balkanroute, die durch Tschechien geht, sieht es wieder anders aus, die Menschen werden nach Deutschland durchgewunken, eine europäische Lösung gibt es nicht. Wie kann sich das ändern?
Wir brauchen dringend weitere Anstrengungen für ein neues europäisches Asylsystem. Das ist mühsam, und es ist nach den Wahlen in Italien und Schweden nicht einfacher geworden. Aber wir können die Augen nicht davor verschließen, dass es immer Fluchtbewegungen geben wird, Menschen vor Krieg und Leid fliehen, und dass Europa immer ein Ziel dieser Fluchtbewegungen bleibt.
Friedrich Merz und die Union reden von „Pull-Faktoren“ durch Bürgergeld und Chancen-Aufenthaltsrecht. Letzteres soll in den kommenden Wochen beschlossen werden, Sie haben sich dafür stark gemacht. Schaffen wir falsche Anreize für Menschen, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen?
Nein. Friedrich Merz hat da versucht, für Stimmen zur Landtagswahl am rechten Rand zu fischen, das war unerträglich. Das Chancen-Aufenthaltsrecht kommt mit einer klaren Stichtagsregelung: Wer am 1. Januar 2022 mindestens fünf Jahre geduldet in Deutschland lebt, soll hier bleiben und arbeiten dürfen. Wir wollen den menschenunwürdigen Zustand der Kettenduldungen abschaffen, der Menschen über viele Jahre zum Nichtstun zwingt, und ihnen endlich eine Perspektive geben. Es handelt sich dabei um rund 135.000 Menschen, die unter diese Stichtagsregelung fallen können. Neue Anreize schafft das Gesetz damit nicht. Es geht darum, Ungerechtigkeiten abzuschaffen für die Menschen, die schon lange da sind.
Soll in den Iran weiter abgeschoben werden?
Auf keinen Fall. Ich unterstütze den Vorschlag von Boris Pistorius, der für die nächste Innenministerkonferenz einen Abschiebestopp auf die Tagesordnung gesetzt hat. Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und andere Bundesländer haben bereits entschieden, nicht mehr in ein Land abzuschieben, dessen Regime willkürlich friedliche Demonstrantinnen umbringt. Weitere Bundesländer sollten sich dem schnellstmöglich anschließen. Dazu bin ich mit Nancy Faeser und meinen Länderkolleginnen im Austausch.
Wie viel Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine noch übrig?
Es gibt in Deutschland nach wie vor eine große Solidarität, das erlebe ich in vielen meiner Gespräche. Es sind jetzt weniger Geflüchtete als im Frühjahr privat untergebracht, aber das ist kein Zeichen dafür, dass die Solidarität abnimmt. Es ist normal, dass Menschen sich nach einigen Monaten eine eigene Unterkunft suchen. Das ist auf dem angespannten Wohnungsmarkt nicht einfach, damit müssen wir jetzt umgehen. Ich habe gerade erst mit ukrainischen Migrantenorganisationen gesprochen, auch sie nehmen weiter eine große Solidarität wahr und sind dankbar für die gute Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten. Es gibt immer wieder unsägliche Kampagnen gegen Geflüchtete, auch aus russischen Propagandaschleudern. Dem müssen wir entschieden entgegentreten