Interview
- Interview mit
- Neue Berliner Redaktionsgesellschaft (NBR)
Die Kommunen, die Union und nun auch SPD-Innenministerin Nancy Faeser schlagen Alarm wegen stark steigender Flüchtlingszahlen. Sind wir inmitten einer neuen Flüchtlingskrise?
Nein, aber die Lage ist ernst und wir gehen das in gemeinsamer Kraftanstrengung von Bund Ländern und Kommunen an. Der Großteil der Geflüchteten kommt aus der Ukraine: mehr als eine Million Menschen sind vor dem russischen Angriffskrieg zu uns geflohen. Auch die Zahl der Asylbewerber steigt, doch ich nehme in meinen Gesprächen nach wie vor eine große Solidarität mit den Geflüchteten wahr.
Die Aufnahme der Ukrainer lief relativ reibungslos, die 200 000 Menschen, die vor allem über die Balkanroute kommen, löst nun Sorgen aus. Ist diese Unterscheidung nicht ungerecht?
Es gibt keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse. Allerdings gibt es rechtliche Unterschiede. Ukrainerinnen und Ukrainer müssen, aufgrund einer EU-Richtlinie, keinen Asylantrag stellen, kein langwieriges Verfahren durchlaufen und nicht in die Erstaufnahmeeinrichtungen. Den schnellen Zugang zu Integrationskursen und zum Arbeitsmarkt sollten wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, auch für andere Geflüchtete ermöglichen.
Im Gegensatz zu 2015/2016 haben wir jetzt auch noch den Krieg in der Ukraine, eine Energiekrise, Inflation und Corona – denkbar schlechte Voraussetzungen für steigende Asylbewerberzahlen, oder?
Die Situation ist mit 2015/16 nicht vergleichbar. Bei allen Gesprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern führe, stehen die genannten Krisen im Vordergrund und wir nehmen diese Sorgen sehr ernst. Deswegen die Entlastungspakete, Gaspreisbremse, Mindestlohn und Wohnungsoffensive. Und wir haben viel aus der damaligen Situation gelernt: Wir brauchen Integration von Anfang an.
Spracherwerb gilt als wichtigstes Werkzeug der Integration. Beim Familiennachzug will die Koalition die Voraussetzungen jetzt aber wieder senken.
Dass nachgeholte Familienangehörige vorzugsweise hier die deutsche Sprache erlernen, finde ich richtig. Erstens sind die Möglichkeiten in Deutschland meist besser und zweitens verhindern wir so, dass der Familiennachzug unerträglich verzögert wird.
Sollte es Sanktionen geben, wenn jemand trotz aller Angebote nicht Deutsch lernt?
Nein. Wollen wir etwa Mütter mit kleinen Kindern bestrafen, weil sie aufgrund ihrer familiären Situation länger brauchen? Aber wir sollten hartnäckig bleiben: Spracherwerb ist der Schlüssel zur Integration.
Am Mittwoch befasst sich erstmals der Bundestag mit dem so genannten Chancen-Aufenthaltsrecht. Es soll langjährig geduldeten und gut integrierten Ausländern einmalig den Zugang zu einem langfristigen Bleiberecht erleichtern. Wie schnell soll das nun gehen?
Das ist ein wichtiges Gesetz, auf das viele schon lange warten. Ich gehe fest davon aus, dass es wie geplant zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten wird.
Die Opposition kritisiert den möglichen „Spurwechsel“ als falschen Anreiz. Flüchtlingsorganisationen fordern wiederum, die Voraussetzungen zu lockern. Was sagen Sie?
Es geht um die Menschen, die schon lange in Deutschland sind. Die Zielgruppe des Gesetzes ist klar definiert; es geht um 135000 Menschen, die zum Stichtag 1. Januar 2022 bereits mindestens fünf Jahre geduldet hier bei uns leben. Wir wollen den menschenunwürdigen Zustand der Kettenduldungen abschaffen, der Menschen über viele Jahre zum Nichtstun zwingt, und ihnen endlich eine Perspektive geben. sind. Die Kritik von CDU/ CSU, wir schafften sogenannte Pull-Effekte, ist völliger Quatsch. Ich habe keinerlei Verständnis für den Widerstand gegen die Neuregelung: Unternehmen, Kammern, Wirtschaftsverbände fragen mich nahezu täglich, wann das neue Chancenaufenthaltsrecht endlich kommt, damit die Menschen, die arbeiten wollen und können, das auch dürfen.
Die Kehrseite der verbesserten Chancen auf Aufenthalt sollen vermehrte Abschiebungen sein, die Koalition spricht von einer „Rückführungsoffensive“. Das wurde aber schon oft angekündigt und ist immer wieder an konkreten Hindernissen gescheitert.
Die Bundesregierung wird dazu weitere Maßnahmen ergreifen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist dazu im engen Austausch mit den Ländern. Zudem haben wir in der Regierungskoalition vereinbart, dass es eine Beauftragten-Stelle geben soll, die sich ganz konkret um diese Herausforderung kümmert, das ist ein neuer Schritt.
Aber unzureichende Identifizierung, fehlende Dokumente, Weigerungen der Herkunftsländer können so auch nicht gelöst werden …
Diese Herausforderungen können nur zusammen mit den Herkunftsländern gelöst werden. Da müssen wir dranbleiben.
Sie sind als Kind irakischer Eltern in Moskau geboren und kamen mit sechs Jahren nach Mecklenburg-Vorpommern. Wie ist es Ihnen dort ergangen?
Ich weiß gut, wie es Menschen geht, die hier neu ankommen – aus privater und aus beruflicher Erfahrung. Das bringe ich in meine Arbeit ein.
Sie betreiben Boxen als Sportart – wie kamen Sie dazu?
Ich war schon immer Fan meines Heimatvereins Boxclub Traktor Schwerin. Erstmals ausprobiert habe ich den Sport dann beim Berliner Verein Boxgirls. Mir gefällt, dass sich hier alle auf Augenhöhe treffen, egal wer man ist oder woher man kommt. Zum Trainieren komme ich allerdings leider nur noch selten.