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Tagesspiegel: Sie sind erst seit 2021 in der SPD und jetzt sitzen Sie hier im Bundeskanzleramt, während Olaf Scholz über uns gerade die Corona-Lage berät. Müssen Sie sich da manchmal kneifen?
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan: In den wenigen ruhigen Momenten, die ich gerade habe, ja. Ansonsten bin ich mittendrin in der Arbeit und habe echt nicht viel Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Hier zu arbeiten ist eine große Ehre.
Wann hat Olaf Scholz Sie gefragt, ob Sie das Amt der Staatsministerin übernehmen wollen?
Es war ein Montagabend, der 6. Dezember – und es war Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, der mich angerufen hat.
Nicht kurz gezweifelt?
Ich war sehr überrascht. Aber ich habe mich natürlich sehr gefreut. Mir ging durch den Kopf, dass ich in Mecklenburg-Vorpommern, wo ich bereits Integrationsbeauftragte war, immer gesagt habe, es müssen mehr, vor allem auch junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Ämter, auf allen Ebenen. Und wenn man das bei anderen immer predigt, muss man auch selbst den Mut dazu haben. Jetzt bin ich hier und ich habe viel vor!
Ohne das Parteibuch würden Sie jetzt nicht hier sitzen. Woran liegt es noch, dass manche Migranten es in so hohe Ämter schaffen, während andere keinen Aufstieg hinlegen können?
Da sind Parteien Spiegelbild der Gesellschaft insgesamt. Es gibt immer noch viele Hürden für Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Vom Ortsverein bis zu den Vorständen fehlen Menschen mit Einwanderungsgeschichte ebenso wie im öffentlichen Dienst – in der Verwaltung und den Sicherheitsbehörden - das spiegelt nicht die Vielfalt unserer Gesellschaft wider. In Deutschland leben 22 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Jeder und jede soll die Chance erhalten, sich voll und ganz einzubringen.
In der Praxis sind Sie aber gegen eine Migrationsquote im öffentlichen Dienst.
Wir haben unsere Potenziale bei weitem nicht ausgeschöpft. Wir müssen Diversität im öffentlichen Dienst erst über breite Kampagnen angehen, bevor wir darüber nachdenken, eine Quote einzuführen.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Es geht darum, ganz aktiv Werbung zu machen und sich als moderner Arbeitgeber zu präsentieren, bei dem Menschen mit Einwanderungsgeschichte mitgestalten können. Warum bewerben sich die Menschen nicht? Das kann man auch mit Hilfe von Studien herausfinden und dann gezielt strategisch angehen. Eine Verwaltung oder eine Polizei, die in ihren Beschäftigten die Gesellschaft insgesamt widerspiegelt, schaffen zusätzliche Akzeptanz und Vertrauen. Für den Bund werden wir ein Partizipationsgesetz auf den Weg bringen.
Bei der Impfkampagne wird viel darüber gesprochen, dass es öffentliche Vorbilder aus den Communities braucht – aber diese werden offenbar nicht gefunden.
Es geht vor allem um die Vorbilder vor Ort, im Verein, in der Nachbarschaft, gar nicht mal die großen Stars, die weit weg sind. Und ich freue mich, dass die Bundesregierung jetzt mit einer neuen Kampagne loslegt, die Mehrsprachigkeit konsequent mitdenkt. Impfen hilft, das muss überall und bei jedem einzelnen ankommen, auch wenn viele es nicht mehr hören können.
Nun, solche Kampagnen gab es auch schon unter der Vorgängerregierung und die neue Kampagne erntet für ihre Altbackenheit viel Kritik. Unabhängig von Impfvorbildern: Wie wichtig sind engagierte Förderer, wie Manuela Schwesig das in Mecklenburg-Vorpommern für Sie war?
Förderer sind immer eine gute Hilfe um sich zu orientieren, Strukturen zu verstehen und Unterstützung zu erfahren. Zum Beispiel, wenn man sich nicht traut, oder wenn man keinen Zugang findet. Das sollten wir als Partei auch stärker in den Blick nehmen: ganz gezielt auf Menschen zugehen, die engagiert sind, aber vielleicht noch nicht eingetreten sind.
Sie sind in Moskau geboren, haben dort bis zu Ihrem sechsten Lebensjahr gelebt. Was geht Ihnen dieser Tage durch den Kopf, wenn Sie die russische Aggression gegen die Ukraine und die Nato und damit die Gefahr eines neuen Krieges mitten in Europa sehen?
Die Situation besorgt mich natürlich sehr und wir beobachten sie genau.
Sie verbinden mit Russland kein Gefühl von Heimat?
Meine Heimat ist Mecklenburg-Vorpommern und vor allem Schwerin. Zu Russland habe ich keine besondere persönliche Verbindung, dafür war ich damals zu jung. Aber ich esse immer noch gerne russisch.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie 1996 nach Deutschland gekommen sind?
Ich war in einem Alter, in dem es gut funktioniert hat, sich neu einzuleben. Ich bin gleich in die erste Klasse gekommen und war von Anfang an mittendrin.
Wo sind Sie und Ihre Familie auf Hürden gestoßen?
Die Abschlüsse meiner Eltern, die in Moskau Ingenieurswesen studiert haben, wurden nicht anerkannt. Zudem durfte damals nur eine Person pro Familie einen Integrationskurs machen. Ich bin sehr froh, dass wir hier mit dem Koalitionsvertrag jetzt einen großen Schritt vorangehen: Jede Person, die hier ankommt, muss die Möglichkeit bekommen, so schnell wie möglich einen Integrationskurs zu machen. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass sich das durch das ganze Leben zieht, wenn die Möglichkeit fehlt.
Die Finanzierung wird häufig als Grund genannt.
Das zahlt sich aber mehrfach aus. Wir wollen doch, dass die Leute hier klarkommen und sich einbringen. Das können sie nur, wenn sie die Sprache lernen und wenn wir ihnen auch die Möglichkeit geben, die Sprache ordentlich zu lernen - nicht einfach so nebenbei.
Was machen Ihre Eltern heute?
Mein Vater ist in der Gastronomie tätig und meine Mutter im Einzelhandel, weil sie in ihren ursprünglichen Berufen nicht arbeiten konnten.
Als Sie nach Deutschland kamen, haben Sie zu Beginn in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern gelebt. Im Jahr 2015 sind Sie, obwohl Sie nach Berlin gezogen waren, zurückgekehrt, um dort während der Flüchtlingskrise zu helfen.
Ich habe gemerkt, dass ich durch meine Ausbildung und meine Erfahrung gut unterstützen und mit anderer Perspektive auf die Menschen zugehen konnte. Kultursensibel zu sein, ist sehr wichtig, gerade in Ausländerbehörden und Erstaufnahmeeinrichtungen. Durch meine eigene Fluchterfahrung konnte ich gut einschätzen, was es braucht.
Gehen wir noch mal zurück in die Zeit, als Sie dort gelebt haben. Das war in den 90er-Jahren, die Zeit, in der der Rechtsextremismus in Ostdeutschland erstarkt war und Hass und Hetze Alltag. Haben Sie davon etwas in Ihrer Kindheit mitbekommen?
Wenig, aber für meine Eltern war das sehr präsent, Rostock-Lichtenhagen war ja erst vier Jahre her.
Sehen Sie heute unterschiedliche Hürden für Migrantinnen und Migranten in Ost- und Westdeutschland? Die neuen Bundesländer sind eine viel homogenere Gesellschaft.
In Ostdeutschland haben wir eine andere Migrationsgeschichte. Aber wir dürfen die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter nicht vergessen. Viele sind zurückgegangen, aber viele sind auch hiergeblieben. Oft geht in der Diskussion um Gastarbeiter unter, dass es in Ostdeutschland ähnliche Erfahrungen gab. Wenn wir nach Dresden und Leipzig oder Schwerin und Rostock blicken, sehen wir, dass die Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern vielfältiger geworden ist. In vielen Orten hat sich der Anteil von Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft innerhalb von wenigen Jahren verdoppelt.
Eine Studie der Migrationsforscherin Naika Foroutan besagt, dass 40 Prozent der Westdeutschen ähnliche Vorurteile sowohl gegen Ostdeutsche als auch Eingewanderte, vor allem Muslime, haben. Etwa, dass beide Gruppen dem Extremismus nahe stünden.
In der Realität sind wir schon lange eine Einwanderungsgesellschaft. Und über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer überwiegt die Gemeinsamkeit. Es geht jetzt um die Frage, wie wir die Gesellschaft gestalten möchten. Wie wollen wir aufeinander zugehen und für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen? Da verlaufen die Trennlinien nicht zwischen Ost und West und nicht zwischen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte. Da geht es eher um die Frage wie wir es schaffen, dass jeder und jede eine faire Chance zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe hat. Aber klar: Wir müssen daran arbeiten und Energie darin investieren, dass der Anteil von Menschen, die solche Vorurteile haben, sinkt – egal in welchem Bundesland.
In welche Maßnahmen sollten wir konkret Energie investieren?
Ich will einen Schwerpunkt auf Antirassismus setzen. Das ist das, was in den letzten Jahren gefehlt hat. Es gab keine Stelle, an der aktiv Strategien dafür entwickelt wurden. Und da gehört es dazu - da kommen wir wieder zu den Studien -, dass wir ein umfassenderes Lagebild brauchen. Und wir brauchen eine Stärkung der Beratungsnetzwerke. Wir müssen also auch die Frage beantworten: Was machen Menschen, wenn sie Rassismus erfahren? Viele wissen nicht, wohin sie sich wenden können, wenn sie auf Wohnungssuche sind und dann offensichtlich aufgrund ihres Namens die Wohnung nicht bekommen. Oder einen Job nicht bekommen, oder bei medizinischer Hilfe rassistisch beleidigt oder diskriminiert werden.
Mit Verlaub, Sie kommen immer wieder auf Studien, zu erstellende Lagebilder zu sprechen. Eigentlich besteht darin kein Mangel. Was wollen Sie denn ganz konkret bewegen?
Sie haben Recht, es gibt viele Berichte und Studien. Die schauen wir uns auch ganz genau an. Es geht um mehr vernetztes Wissen und einen ganzheitlichen Ansatz. Es ist zwar gut, dass der Kabinettausschuss in der letzten Legislaturperiode 89 Einzelmaßnahmen beschlossen hat. Aber mir fehlt sozusagen das Dach. Deshalb ist es wichtig, dass der Koalitionsvertrag einen Beauftragten gegen Rassismus vorsieht. Und mir ist besonders wichtig, auch die Perspektive der jungen Menschen zu stärken. Das geht vor allem über Sport, Kultur und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf lokaler Ebene.
Auch über mehr digitale, neue Formate?
Unbedingt. Ich bin selbst auf Tiktok unterwegs, auf Instagram sowieso und einigen anderen. Und da fällt mir schon auf, dass gesellschaftspolitische Themen dort nicht so stark stattfinden, wie sie es könnten. Da müssen wir besser werden.
Tiktok, als Plattform, um aus dem Kanzleramt heraus junge Menschen zu erreichen?
Warum nicht? Man kann an der Plattform gut erkennen, welche Themen junge Menschen gerade beschäftigen. Wir dürfen Tiktok und andere nicht belächeln als Plattformen, auf der junge Menschen sich beim Tanzen filmen. Dort findet mittlerweile auch viel Bildungsarbeit statt – da müssen wir uns bewegen.
Sie hatten eben Ihre Eltern als Beispiel angesprochen. Ihre Abschlüsse wurden damals nicht anerkannt. Wir haben heute einen großen Fachkräftemangel, wir brauchen Handwerker für die Energiewende, wir brauchen dringend mehr Pflegekräfte. Schaffen wir das?
Ich möchte Arbeitsminister Hubertus Heil dabei unterstützen, Werbung für Deutschland zu machen. Ich glaube nicht, dass eine veränderte Gesetzgebung ausreicht, um die Fachkräfte hierher zu holen, die wir brauchen. Wir stehen hier in Konkurrenz mit anderen Ländern, die schon lange als Einwanderungsländer gelten, wie Kanada beispielsweise. Deutschland muss sich als modernes Einwanderungsland präsentieren, das neue Perspektiven bietet. Dazu gehört dann auch die mögliche Einbürgerung.
Also eine Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft?
Wir wollen die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und die Einbürgerung erleichtern. Ich sehe es als meine Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass die Menschen, die hier sind, auch gerne hierbleiben wollen. Da gehört vielmehr dazu als der Arbeitsvertrag, es braucht auch Sprachkurse, Wohnen, Schule und eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Sie zitieren immer wieder den Koalitionsvertrag, haben Sie auch eigene Ideen, die Sie gerne umsetzen würden, wo Sie sagen, da muss noch mehr kommen?
Wenn wir das alles umsetzen, was wir uns vorgenommen haben, dann sind wir schon ein Riesenstück weiter. Wir holen viel nach, was 16 Jahre mit CDU/CSU nicht möglich war. Etwa das Aufenthaltsgesetz mit dem Thema der Duldungen und Perspektive auf eine Aufenthaltserlaubnis. Ich habe da ein Beispiel aus meiner Heimatstadt: Eine Familie aus der Ukraine, die Mama Pflegerin im Altenheim. Der Papa Handwerker, die Kinder in der Schule. Sie sind nur geduldet und die Abschiebung droht. Und die Unternehmen vor Ort, das Altenheim und der Handwerks-Betrieb, die stehen vor der Tür und sagen: Leute, das kann echt nicht sein. Wir haben hier Fachkräftemangel, wir brauchen sie, wir wollen sie nicht abschieben.
Auf der anderen Seite gibt es Bürger, die zum Beispiel Angst haben vor kriminellen Clans, da reden Sie weniger drüber. Da haben sich durch politische Versäumnisse große Probleme und Ghettos entwickelt.
Die allermeisten, die hierherkommen, wollen hier sicher und friedlich mit ihren Familien leben. Aber natürlich müssen wir in vielen Städten, auch bei mir in Schwerin über Segregation sprechen und Lösungen finden.
Was meinen Sie mit Segregation genau?
Ghettos, wie Sie es nennen, habe ich nicht erlebt. Aber dass es Stadtviertel gibt, in denen Menschen leben, die vorrangig wirtschaftlich schwächer aufgestellt sind, das sind ja nicht nur Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Das müssen wir ändern.
In Berlin können wir Ihnen einige Gegenden und Beispiele zeigen. Wie wollen Sie denn diese – Segregation – aufbrechen? Man kann ja nicht Leute verpflichten, irgendwo hin zu ziehen.
Diese Bundesregierung tritt an, 400.000 neue Wohnungen im Jahr zu bauen, davon ein großer Teil Sozialwohnungen. Und da wird darauf geachtet, dass das nicht nur in den Randbezirken stattfindet. Dieses Klischee von Stadtteilen, in denen Menschen mit Einwanderungsgeschichte leben, möchte ich nicht weitertragen. Es geht vielmehr um strukturelle Probleme, die alle betreffen, die in diesen Stadtteilen wohnen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Wenden wir den Blick zu einer anderen Parallelstruktur. Sehen Sie sich als Integrationsbeauftragte in der Pflicht, auch die AfD mehr in die Gesellschaft zu integrieren?
Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen der Partei und den Wählerinnen und Wähler der AfD, die ich ja gar nicht ausmachen kann. Ich wende mich an alle, die bereit sind, unsere moderne Einwanderungsgesellschaft mitzugestalten und es als ein Selbstverständnis sehen, das wir vielfältig sind. Aber natürlich ist klar, dass ich auch mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen will, die da Ängste haben oder Sorgen.
Frau Staatsministerin, Sie werden da sicher einige Kämpfe noch auszufechten zu haben. Aber Sie haben ja ein großes Hobby, das Boxen.
Ja, aber leider komme ich gerade gar nicht mehr dazu, ehrlich gesagt.
Ihr Ehemann ist auch Boxer, Profiboxer, seine Eltern sind vor dem Ceaușescu-Regime aus Rumänien geflohen. Inwiefern prägen Sie beide diese Fluchtgeschichten bis heute?
Für mich ist es spannend, die Perspektive meines Mannes zu sehen, der in Köln aufgewachsen ist, in derselben Zeit, aber mit ganz anderen Erfahrungen. Er war nie der einzige mit Migrationsgeschichte in seiner Klasse oder seinem Umfeld. Das war bei mir in Schwerin genau andersrum. Und doch gibt es so viele Gemeinsamkeiten.
Wir haben über Klischees gesprochen. Viele tun sich schwer, im auch emotional kühlen Deutschland eine neue Heimat zu finden. In einem Satz, was ist Deutschland heute für Sie?
Ich habe ganz viel Hoffnung und blicke optimistisch in die Zukunft was unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt angeht. Auch wenn es gerade so schwierig ist.
Das überrascht uns jetzt, Corona scheint Spaltungen verschärft zu haben…
Die Corona-Demonstrationen, die Ereignisse der letzten Jahre, mit den Taten in Hanau und Halle - zuletzt gab es dort auch Schüsse auf eine Moschee - das lässt uns nicht los. Trotzdem glaube ich, dass wir auf einem guten Weg sind, das zu überwinden. Ich habe zumindest dieses Gefühl, was ich viele Jahre nicht hatte.