Interview
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan über Grenzkontrollen, Willkommenskultur und den Ton in der Migrationsdebatte
- Interview mit
- Neue Osnabrücker Zeitung
NOZ: Als 2015 hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft zunächst groß. Im Frühjahr 2022 wurden die Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen begrüßt. Von dieser Willkommenskultur ist kaum etwas übrig geblieben. Was ist passiert?
Reem Alabali-Radovan: Bei der Aufnahme von Geflüchteten erlebe ich weiterhin eine große Solidarität, aber auch Sorgen. Die Kommunen leisten einen enormen Kraftakt. Und manche kommen an die Belastungsgrenze. Die Stimmung ändert sich, ist rauer, dafür ist auch der Ton in der Migrationsdebatte verantwortlich. Es werden Ressentiments geschürt und Falschbehauptungen aufgestellt, wie zuletzt durch Herrn Merz. Das legt die Axt an den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Was sich zu 2015 nicht verändert hat: Im Mittelmeer sterben tausende Schutzsuchende, die Aufnahmelager sind überfüllt. Haben Deutschland und die Europäische Union nichts dazugelernt?
Die EU hat es nicht geschafft, eine solidarische Flüchtlingsverteilung und humane Asylverfahren an den Außengrenzen zu ermöglichen, Fluchtursachen und Schlepper nachhaltig zu bekämpfen. Die Bundesregierung arbeitet in Brüssel hart dafür, dass sich das endlich ändert. Erstmals sieht es jetzt nach einer gemeinsamen Lösung aus, die genau das ermöglichen soll. Die Reform kann insbesondere zu einer fairen Verteilung und einheitlichen Standards führen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist hier gerade in intensiven Verhandlungen.
Sie meinen die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS. Zuletzt gab es noch Bedenken von den Grünen. Kommt die sogenannte Krisenverordnung vor der Europawahl im Juni noch zustande?
Die Bundesregierung hat wichtige Änderungen zum Schutz vulnerabler Gruppen wie Familien und Kinder und gegen die Herabsetzung von Aufnahmestandards in die Verordnung reinverhandelt. Zu dem überarbeiteten Vorschlag hat die Bundesregierung im EU-Rat Zustimmung signalisiert.
Durch die Reform sollen Moldau und Georgien als sichere Herkunftsstaaten ernannt werden. Würde das die angekündigte „Rückführungsoffensive“ der Ampel spürbar beschleunigen?
Es ist ein Baustein. Die Schutzquoten bei Georgien und Moldau sind gering und das Kabinett hat den Gesetzentwurf beschlossen, um Asylverfahren von Antragstellern aus beiden Staaten zu beschleunigen und den Aufenthalt bei einer Ablehnung schneller zu beenden.
Eine Verteilungsreform und Asylverfahren an den EU-Außengrenzen können die Lage verbessern. Aber es wird dauern, bis sie ihre volle Wirkung entfalten. Welche kurzfristigen Maßnahmen können gegen die unkontrollierte Migration helfen?
Wir müssen an vielen Stellschrauben gleichzeitig drehen. Dazu zählen auch Migrationsabkommen. Momentan führen wir bilateral mit weiteren Drittstaaten intensive Gespräche, um vollziehbare Rückführungen zu erleichtern, gleichzeitig legale Wege für Arbeitsmigration zu ermöglichen. An unseren Grenzen setzen wir konsequent Schleierfahndung zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität ein. Wir müssen Asylverfahren weiter beschleunigen. Und letztlich geht es jetzt aber auch um vermeintlich banale Dinge wie die Digitalisierung der Ausländerbehörden.
Nancy Faeser war lange gegen stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien. Jetzt ist sie dafür. Woher kommt dieser Kurswechsel?
Es gab keinen Kurswechsel, die Option stationärer Kontrollen war immer auf dem Tisch. Jetzt gibt es eine Vereinbarung zu gemeinsamen Streifen der Bundespolizei mit unseren Nachbarländern, mit Polen und Tschechien. Klar ist: Grenzkontrollen sind ein wichtiger Schritt gegen Schleuserkriminalität. Wenn ich die Bilder von Transportern sehe, in denen Geflüchtete stehen, ohne Platz, ohne Luft, dann bin ich froh, dass die Bundespolizei diese Unmenschlichkeit verstärkt bekämpft.
Die Flüchtlingszahlen lassen sich so kaum senken.
Es gibt sie nicht, die eine Lösung. Vielmehr müssen viele Maßnahmen ineinandergreifen und genau das setzt die Bundesregierung um.
Was ist mit Obergrenzen, Mauern und Zäunen? Viele fänden das vermutlich gut.
Das Gerede von Obergrenzen ist doch heiße Luft, vollkommen abwegig, zudem rechtswidrig, denn was würde mit einer syrischen Asylbewerberin geschehen, die Person Nummer 1 jenseits einer Obergrenze wäre? Solche Diskussionen heizen nur die Stimmung weiter an, entmenschlichen Geflüchtete. Es geht so nur noch um Zahlen, Massen, Ströme – die persönlichen Schicksale dahinter verschwinden.
Vor allem die Länder und Kommunen sind gefrustet – die Ampel weigerte sich lange, ihnen mehr Geld für die Flüchtlingsaufnahme bereitzustellen. Am Ende gab es nur einmalig für dieses Jahr eine Milliarde extra. Bräuchte es keine dauerhafte Regelung?
Aus meiner Sicht ist eines der größten Probleme, dass wir immer nur agieren, wenn die Krise da ist. Dann werden Strukturen hochgefahren, Projekte bewilligt, Gelder nach langem Streit verteilt. Integration ist aber eine Daueraufgabe. Um uns krisenfest zu machen, müssen Bund, Länder und Kommunen eng und verlässlich zusammenarbeiten. Das hat in der Vergangenheit nicht immer gut geklappt. Darum ist es gut, dass die nächste Ministerpräsidentenkonferenz dazu einen gemeinsamen Beschluss fassen will, auch zu Fragen der dauerhaften Finanzierung.