„Warum boxen Sie, Reem Alabali-Radovan?“

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Porträtfoto Querformat sitzend auf Treppe

Pressefoto Staatsministerin Reem Alabali Radovan

Foto: Integrationsbeauftragte / Krautz

DIE ZEIT: Sie haben in ihrer Kindheit als erste Sprache Russisch gesprochen, dabei sind ihre Eltern Iraker. Wie kam das?

Alabali-Radovan: Meine Eltern haben damals in Russland Ingenieurwissenschaften studiert, in Moskau. Wir lebten in einem Familienapartment im Studentenwohnheim, ich ging dort in den Kindergarten, auch nachmittags. Mein Vater konnte gut Russisch, meine Mutter weniger. Damit sie es schneller lernt, haben meine Eltern zu Hause Russisch gesprochen. Auch mit mir. 

ZEIT: Aber Mama und Papa haben Sie schon auf Arabisch gesagt?Al

abali-Radovan: Das und ein paar mehr Worte, meine Eltern haben mir gelegentlich auch vorgelesen auf Arabisch. Aber unterhalten haben wir uns vorwiegend auf Russisch.

ZEIT: Wann haben Sie dann richtig Arabisch gelernt?

Alabali-Radovan: Erst in Deutschland. Ich war sechs, als ich mit meinen Eltern hierherkam. Ich habe es parallel mit Deutsch gelernt. 

ZEIT: Was war schwieriger?

Alabali-Radovan: Arabisch. Das Deutschlernen lief fast automatisch über die Freunde und die Schule. In Schwerin kam ich damals direkt in die Grundschule und Willkommensklassen gab es Mitte der 1990er Jahre noch nicht.  Ich war also gleich mittendrin im normalen Unterricht. 

ZEIT: Welche Rolle spielte Ihre Einwanderungsgeschichte bei den Lehrern?

Alabali-Radovan: Kaum eine, darüber wurde nicht gesprochen, das wurde eher ignoriert mit dem Gedanken, dass ich ein Teil der Klassengemeinschaft bin. In meiner Grundschule gab es kaum eingewanderte Kinder. Im Nachhinein betrachtet hatte das eigentlich eher Ansätze von Assimilation als Integration. 

ZEIT: Aber zusätzliche Sprachförderung gab es?

Alabali-Radovan: Nein, die gab es für Kinder nicht. Bei mir hat das auch so funktioniert. Aber ich hatte Freunde, die die erste Klasse ein-, zwei- oder sogar dreimal wiederholen mussten. Perfekte Noten hatte ich in Deutsch nie, meistens nur befriedigend, das hat sich die Schulzeit durchgezogen.

ZEIT: Blieb Ihnen der häufige Umweg von Einwandererkindern über die Haupt- oder Realschule erspart?

Alabali-Radovan: Auch ich habe damals, wie so viele Kinder mit Migrationsgeschichte, eine Realschulempfehlung bekommen, obwohl ich ziemlich gute Noten hatte. Aber meine Eltern bestanden auf dem Gymnasium. 

ZEIT: Die kannten sich schon aus mit dem deutschen Schulsystem?

Alabali-Radovan: Nicht in den Einzelheiten, sie wussten aber, dass das Abitur das Höchstmögliche ist und ich damit studieren kann. Das war ihnen wichtig.

ZEIT: Wollten Sie denn auch aufs Gymnasium?

Alabali-Radovan: Unbedingt. Ich weiß noch, wie traurig ich wegen der Realschulempfehlung war. Ich hatte mir meine Wunschschule schon ausgesucht, ein altsprachliches Gymnasium. Das ist es dann auch geworden.

ZEIT: Nicht nur Ihr Vater hat studiert, auch Ihre Mutter. War das im Irak damals ungewöhnlich?
Alabali-Radovan: Nein, gar nicht. Schon in den 1970er und 80er Jahren war der Akademisierungsgrad im Irak hoch, auch bei Frauen.

ZEIT: Ihre Mutter war da Vorbild für Sie?

Alabali-Radovan: Ja, sie war und ist eine starke Frau, ich habe als Kind mitbekommen, wie sie für ihr Diplom paukte, ich erinnere mich an die viele Karten zuhause an der Wand – sie ist Straßen- und Brückenbauingenieurin. Leider wurden die Abschlüsse meiner Eltern in Deutschland nicht anerkannt und sie konnten in Deutschland nie in ihren Berufen arbeiten. Das war und ist sehr bitter. 

ZEIT: Wovon leben Ihre Eltern hier? 

Alabali-Radovan: Beide arbeiten. Meine Mutter ist Verkäuferin in einem Schuhfachgeschäft, mein Vater hat im Großhandel gearbeitet und ist jetzt in Rente.

ZEIT: Konnten Ihre Eltern nicht in Russland bleiben oder zurück in den Irak? 

Alabali-Radovan:. Nach Ablauf des Studentenvisums in Russland sind wir kurzzeitig in die autonome Region Kurdistan Irak zurückgekehrt. Doch das Bleiben war ausgeschlossen, da mein Vater im Widerstand gegen Saddam Hussein aktiv war. 

ZEIT: Ihre ersten Monate in Deutschland haben Sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung verbracht, was lernt man im Flüchtlingsheim, welche Erinnerungen haben Sie?

Alabali-Radovan: Wir waren in der Erstaufnahme Nostorf-Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Man lernt auf engstem Raum zu leben, vieles zu teilen, die Küche, die Zimmer, das Bad. Ich hatte dort viele Freundinnen und Freunde aus unterschiedlichen Ländern: Irak, Armenien, Rumänien, auch viele Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge gab es. Wir Kinder haben nicht verstanden, warum wir da alle zusammenwohnen, aber es war schön, zusammen zu spielen. Es gibt aber natürlich auch weniger gute Erinnerungen: die unzähligen Amtsgänge, das lange Warten auf den Asylentscheid, die Marken und das Anstellen fürs Essen, um Erlaubnis bitten, wenn man in die Stadt wollte, denn das ging nur einmal die Woche. Dass wir nicht wirklich frei sind, habe ich als Kind gespürt. Wir waren froh, als wir die Erstaufnahme verlassen konnten. Bis heute reden wir kaum über diese harte Zeit. 

ZEIT: Hatten Sie als Kind das Gefühl arm zu sein?

Alabali-Radovan: Nein, meine Eltern haben mir nie das Gefühl gegeben, dass es so sein könnte.

ZEIT: 2015, als die Flüchtlingszahlen stiegen, sind Sie dann doch wieder nach Nostorf-Horst?

Alabali-Radovan: Ich kam frisch von der Uni, hatte Internationale Beziehungen an der FU Berlin studiert und wollte eigentlich im Nahen Osten oder in New York arbeiten. Aber als ich die Ausschreibung für eine Stelle in der Erstaufnahmeeinrichtung sah, habe ich mich einfach beworben. Ich wollte mit anpacken. Es war ein guter Job und eine wichtige Aufgabe in diesen Zeiten. Ich wurde auch wegen meiner Arabisch-Kenntnisse eingestellt, habe Beratungssprechstunden geführt und mich um Aufenthaltsgenehmigungen gekümmert. Als im September 2015 dann viele Busse aus München mit Geflüchteten zu uns kamen, Menschen auf Parkplätzen übernachteten, wurde ich Fachbereichsleiterin für die Verteilung innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns. Zusammen mit meinem Team mussten wir planen und entscheiden, wer wohin kam. Es war eine aufreibende Zeit, ebenso prägend wie meine eigene Fluchtgeschichte. 

ZEIT: Viel Verantwortung, wenn man frisch von der Uni kommt. Waren Sie damals schon SPD-Mitglied?

Alabali-Radovan: Ja, viel Verantwortung. Und nein, politisch war ich noch nicht engagiert.
 
ZEIT: Wie kamen Sie denn zur SPD?
Alabali-Radovan: Mein Herz hat immer für die SPD geschlagen, auch wenn ich lange kein Mitglied war. Das begann 2002 mit der Haltung der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zum Irak-Krieg. Das „Nein“ hat mich beeindruckt, ich war damals zwölf. Und die Grundwerte der SPD überzeugten mich: Solidarität, Chancengerechtigkeit, Aufstieg durch Bildung, eine Partei, die gegen Rassismus einsteht. Ab 2018 habe ich dann im SPD geführten Integrations-Ministerium in Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet, ab 2020 als Integrationsbeauftragte des Landes.

ZEIT: In die Partei eingetreten sind Sie aber erst 2021. 

Alabali-Radovan: Ich hatte mich immer mal wieder gefragt, wie das eigentlich so wäre, in einem Ortsverein mitzumachen. Und ich hatte ehrlich gesagt die Hoffnung, dass mal jemand fragt, ob ich nicht mitkommen wolle. Hat aber niemand. Da einfach hinzugehen war für mich ein großer Schritt, besonders als junge Frau mit Einwanderungsgeschichte – und ich weiß, dass es auch heute noch vielen so geht. Wir müssen hier in den Parteien noch mehr Hürden abbauen und uns offener zeigen. 

ZEIT: Und dann wurden Sie gleich als Wahlkreiskandidatin für den Bundestag aufgestellt. 

Alabali-Radovan: Die Kreisvorsitzende war auf mich aufmerksam geworden und hat mich gefragt, ob ich mir auch die Kandidatur für den Bundestag vorstellen könnte.

ZEIT: Mussten Sie lange überlegen?

Alabali-Radovan: Nein, ich habe das als Chance gesehen. Ich wollte mich unbedingt aktiv einbringen und mitgestalten. Aber ganz ehrlich: die Erfolgschancen standen zu dem Zeitpunkt nicht besonders hoch, die Umfrage-Werte sahen für die SPD Anfang 2021 nicht gut aus. Dass ich tatsächlich das Direktmandat gewinnen würde, haben zu dem Zeitpunkt damals nicht viele für möglich gehalten.

ZEIT: Ein paar Monate später standen Sie mit Olaf Scholz im Boxring. Wie kam es denn dazu?

Alabali-Radovan: Ich wollte für die Wahlkampftour einen Termin mit ihm organisieren, bei dem er auf Menschen trifft, mit denen er sonst vielleicht nicht so oft zusammenkommt. Also nicht der klassische Besuch bei einem Träger der Wohlfahrtspflege oder einem Unternehmen. Also lud ich ihn ein zu „Traktor Schwerin“, in die Sporthalle meines Boxclubs.

ZEIT: Versteht Scholz etwas vom Boxen?

Alabali-Radovan: Ich glaube, sein Sport ist eher Joggen und Rudern. Mir war aber wichtig, dass die jungen Leute aus dem Club, die sonst nie zu einem Wahlkampfauftritt gehen würden, Politiker einmal ganz nah erleben. Ich wollte Lebenswelten zusammenbringen, und das ist gut angekommen. 

ZEIT: Wie sind Sie selbst zum Boxen gekommen?
Alabali-Radovan: Ich hatte mich während des Studiums bei den Boxgirls Berlin angemeldet, da waren einfach tolle Frauen dabei. Außerdem hatte ich kurz zuvor meinen Mann kennengelernt und dachte, es kann nicht schaden, ein wenig mitreden zu können. Er ist Profi-Boxer, Europameister im Mittelgewicht und deutscher Meister. Da kann ich natürlich nicht mithalten, für mich ist das Boxen nur ein Hobby. 

ZEIT: Was kann die Politik von dem Sport lernen?

Alabali-Radovan: Es geht in den Boxhallen sehr respektvoll zu, man begegnet sich auf Augenhöhe, unabhängig von Herkunft oder Status. Das fasziniert mich. Davon wünsche ich mir mehr für die Politik. Für mich nehme ich mit: Disziplin und Ausdauer, nicht aufgeben, sich nicht unterkriegen lassen.

ZEIT: Hatten Sie denn vor, in die Politik zu gehen?

Alabali-Radovan: Also mit 13 wollte ich Astronomie studieren und unbedingt zur NASA. Dann merkte ich schnell, dass man dafür ziemlich gut in Physik sein muss… Lange war es dann mein Traum, bei den Vereinten Nationen zu arbeiten, das steht auch in meinem Abi-Buch. Politisiert war ich schon früh, das kam vor allem durch den Irakkrieg und die vielen Gespräche zu Hause. Ich habe Politik studiert, mit dem Ziel für eine internationale Organisation zu arbeiten. Später habe ich dann gemerkt, dass ich hier vor Ort als Abgeordnete des Bundestages viel mehr direkt aktiv gestalten kann.

ZEIT: Jetzt sind Sie Integrations- und Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung. Gerade haben Sie den Lagebericht Rassismus in Deutschland   vorgestellt. Haben Sie selbst Rassismus erlebt? 

Alabali-Radovan: Ja, das haben sicher sehr viele [alle?] , bei denen eine familiäre Einwanderungsgeschichte erkennbar ist. Meine persönlichen Erfahrungen stelle ich aber ungern in den Vordergrund.

ZEIT: Warum?

Alabali-Radovan: Es führt nicht weiter, wenn ich über meinen Einzelfall rede. Es geht ja nicht um Mitleid. Wir müssen stattdessen über das Gesamtbild sprechen, über strukturellen Rassismus, über Alltagsrassismus, darüber dass zu viele Menschen in unserem Land tagtäglich Rassismus-Erfahrungen machen, in Bus oder Bahn, aber auch am Arbeits- und Wohnungsmarkt. 

ZEIT: Erlauben Sie dennoch die Nachfrage: was haben Sie während des Wahlkampfs an Ihren Ständen erlebt, gab es da rassistische Vorfälle?

Alabali-Radovan: Im direkten Kontakt viel weniger als ich befürchtet hatte. Entsprechende Einschläge gibt es allerdings regelmäßig in meinen Social-Media-Feeds oder in Mails. Da wird mir abgesprochen, dass ich echte Deutsche bin oder auch, dass ich mit meiner Einwanderungsgeschichte Politik für alle Bürgerinnen und Bürger machen könne.

ZEIT: Was haben die Silvesterkrawalle und die anschließenden Debatten in Ihnen ausgelöst?

Alabali-Radovan: Die Angriffe auf die Einsatzkräfte waren schrecklich, das war menschenverachtende Gewalt, die mit der Härte unseres Rechtsstaats verfolgt werden muss. Doch klar ist auch, dass wir die Täter nach ihren Taten verurteilen müssen, nicht nach vermuteter Herkunft oder Vornamen. Wer da mit Generalverdacht reagiert, schürt rassistische Ressentiments. Ich hatte erwartet, dass wir weiter sind und sachlich über Fragen der Integration diskutieren könnten.

ZEIT: Müssen Sie oft erklären, dass Sie keine Muslimin sind, trotz Ihrer irakischen Herkunft?

Alabali-Radovan: Es ist einfach nicht sehr bekannt, dass es im Irak durchaus verschiedene Religionen gibt, dort auch Christen leben, im Fall meiner Familie aus der chaldäisch-katholischen Kirche.

ZEIT: Wie fanden Sie als Einwandererkind den Geschichtsunterricht?

Alabali-Radovan: Ich fand es schade, dass so vieles nicht besprochen wurde, ganz unabhängig von meiner Herkunft. Bei der deutschen Geschichte kamen wir nur bis zum Zweiten Weltkrieg, ich habe nichts über die DDR gelernt ¬– und das in Mecklenburg-Vorpommern! Ich bin dann oft in die Stadtbibliothek und habe mir Geschichtsbücher ausgeliehen zu den Themen, die mich interessierten aber in der Schule nicht besprochen wurden.

ZEIT: Was haben Sie sich ausgeliehen?

Alabali-Radovan: Anfangs viel über Mesopotamien, es war meinem Vater wichtig, dass ich etwas über die Geschichte des Irak und des Nahen Osten lerne. Da war ich 13, 14. Ich hätte in der Schule auch gern mehr über Gastarbeiter und Vertragsarbeiterinnen in Deutschland erfahren oder Migration, aber das war nicht Thema, in keinem Unterrichtsfach. 

ZEIT: Sie haben vorhin gesagt, Ihr Herz würde vor allem für die SPD schlagen, weil die Partei für Aufstieg durch Bildung steht. Trifft das denn zu, auf das heutige Deutschland?

Alabali-Radovan: Der Aufstieg ist möglich, aber noch nicht immer und für alle. Das bleibt eine der großen Aufgaben, gerade in der Integrationspolitik. Wir müssen hart dafür arbeiten, dass der soziale Status der Eltern nicht weiter über die Chancen eines Kindes entscheidet.

ZEIT: Sie werden bald Mutter. Mit welchen Sprachen wird Ihr Kind aufwachsen?

Alabali-Radovan: Vielleicht dreisprachig: Deutsch, Arabisch und Rumänisch, mein Mann hat ja rumänische Wurzeln. Das wäre schön. Aber ich bin mit der Prognose vorsichtig, wie konsequent wir dann wirklich sind. Es kommt ja oft anders als man so denkt.

Interview: Hanna Grabbe und Arnfrid Schenk