„Rassismus und Rechtsextremismus sind die größte innere Gefahr“

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„Rassismus und Rechtsextremismus sind die größte innere Gefahr“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung über Gefahren für die Demokratie, ihren Einfluss im Kabinett und die Frage, ob es Flüchtlinge zweier Klassen gibt. Ein Gespräch mit Reem Alabali-Radovan.

  • Interview mit
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frau Staatsministerin, Sie haben sich entsetzt gezeigt über den Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Leipzig. Nach solchen Taten gibt es immer das Ritual von Trauer, Empörung und Forderungen, dass das nie wieder passieren dürfe. Und dann passiert es doch. Wie kann man das verhindern?

Für mich sind das nicht nur Rituale, ich sehe sie als Auftrag: Rassismus und Rechtsextremismus sind die größte innere Gefahr für unsere Demokratie. Statistisch gibt es pro Tag zwei Angriffe auf Geflüchtete. Da wurde die letzten Jahre vieles verschlafen, viel zu wenig getan. Wir müssen stärker auf Prävention und Bildung setzen. Ich möchte vor allem die zivilgesellschaftlichen Initiativen fördern, die so wichtig sind, auch für die Aufarbeitung rassistischer Anschläge. Und wir müssen gegen rechtsextreme Strukturen vorgehen.

Schon die Vorgängerregierung hat ein Paket mit 89 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus vorgelegt. Was haben SPD und Union in der Vergangenheit konkret verschlafen?

Der Kabinettsausschuss gegen Rechtsex­tremismus und Rassismus war eine Antwort auf den Anschlag in Halle, auf den Mord an Walter Lübcke und vor allem auch auf Hanau. Es war wichtig, dass diese Maßnahmen beschlossen wurden, viele lau­fen auch weiter. Das werde ich als Antirassismusbeauftragte natürlich begleiten. Aber in der politischen Bildung, der Ausbildung und im Kampf gegen strukturellen und institutionellen Rassismus müssen wir noch viel mehr tun.

Sie haben kein Integrationsministerium. Wie können Sie als Beauftragte politisch Einfluss nehmen?

Ich nehme an den Sitzungen des Kabinetts teil und bin in alle Prozesse der Bundesregierung eingebunden, die meine Themen Integration, Migration, Flucht und Antirassismus betreffen. Ich schmiede Allianzen, mahne, treibe, werbe und bin Ombudsfrau. Manchmal ist es auch hilfreich, dass ich nicht Bundes­ministerin bin, dadurch habe ich einen di­rekteren Zugang, vor allem zu Betroffenen von Rassismus und Migrantenorganisationen. Da nehme ich wichtige Anliegen mit und bringe sie in das Regierungshandeln ein.

Sie sind erst seit anderthalb Jahren SPD-Mitglied. Wie gut sind Sie in der Partei vernetzt?

Ich kenne viele Akteure in der Integrationspolitik durch meine Arbeit als Inte­grationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern. In der SPD-Bundestagsfraktion und in der Partei haben wir Arbeitsgemeinschaften zu Migration und Vielfalt, da bin ich bestens vernetzt. Und die Delegierten der SPD in Mecklenburg-Vorpommern haben mich gerade zu ihrer stellvertretenden Vorsitzenden gewählt.

Ist es trotzdem manchmal schwer, sich Gehör zu verschaffen, wenn man neu in Berlin ist?

Expertise und ein frischer Blick haben ja auch etwas. Der Bundestag ist in dieser Legislaturperiode jünger und diverser als je zuvor. Ich habe allein in meiner Fraktion 48 Kolleginnen und Kollegen, die unter 35 sind. Das verbindet.

Sie haben mal gesagt, dass Sie sich nicht allein über den Migrationshintergrund definieren. Sie sind in Moskau geboren, Ih­re Eltern waren aus dem Irak geflüchtet, Sie haben in Deutschland Asyl be­kommen. Welche Bedeutung hat Ihre Ge­schichte für Ihre Aufgabe?

Natürlich spielt das eine Rolle. Es gibt auch immer wieder Momente, in denen ich an meine persönlichen Erfahrungen denke, zum Beispiel jetzt beim Gedenken an die Anschläge von Rostock-Lichten­hagen oder bei der Aufnahme von Ge­flüchteten aus der Ukraine. Das lässt mich nicht kalt, aber das ist auch gut so.

Gibt es etwas, das Sie anders machen möchten als Ihre Vorgängerin?

Gerade als junge Politikerin möchte ich Dinge anders machen, neue Perspektiven reinbringen. Ich werde aber keine Haltungsnoten geben für die Arbeit meiner Vorgängerin. Mir ist vor allem wichtig, intensiven Kontakt zu den Communitys und den Verbänden zu halten. Ich werde alles daransetzen, dass wir endlich ein modernes Einwanderungsland werden.

Für die Flüchtlinge aus der Ukraine wurde die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert, weshalb die Ukrainer ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen. Für die syrischen Bürgerkriegsflücht­linge ist das 2015 nicht geschehen. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, es gebe Flüchtlinge zweier Klassen?

Zunächst einmal war es sehr gut, dass wir in der Europäischen Union diesen Schritt gegangen sind. Erstmalig gab es Einigkeit in der Migrationsfrage. Ich hatte in den letzten Monaten viele Gespräche zu der Frage der Ungleichbehandlung, die sich in dieser historischen Entscheidung begründet, und sehe es so: Wir müssen jetzt die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten als Blaupause nehmen für das, was möglich ist, wenn alle mitmachen. Klar, auf europäischer Ebene können wir das nicht allein entscheiden. Aber wir haben in Deutschland gesehen, wie gut es funktioniert, wenn wir auf schnelle Klarheit beim Aufenthalt und auf Integration von An­fang an setzen. Das sollten wir auch künftig tun.

Würden Sie sagen, es war ein Fehler, dass die EU das damals nicht gemacht hat?

Wenn man die Situation vergleicht, hätten wir diese Richtlinie auch 2015 gut gebrauchen können. Aber ehrlich gesagt, zu dem Zeitpunkt hielt ich es nicht für möglich, dass die Europäische Union sich in so ei­nem Thema einig werden könnte.

Im Koalitionsvertrag ist die Rede von einem Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Was bedeutet das?

Es geht um mehr Menschlichkeit statt Misstrauen. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: In den letzten Jahren wurde hart um den sogenannten Spurwechsel gerungen, also den Wechsel aus dem Asyl­system zu Fachkräfteregelungen. Jetzt ha­ben wir dafür endlich das Chancen-Aufenthaltsrecht auf den Weg gebracht. Da­mit erhalten mehr als 135 000 Menschen, die über fünf Jahre in unsäglichen Kettenduldungen stecken, die Chance auf einen sicheren Aufenthaltstitel. Zudem setzen wir auf Integration von Anfang an für alle, die neu ins Land kommen – ohne Be­schäftigungsverbote. Wir dürfen die Menschen nicht zum Herumsitzen zwingen, wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, sich einzubringen. Sie wollen sich ja auch einbringen.

Die Gegner des Spurwechsels argumentieren, das sei ein Pull-Faktor. Wie sehen Sie das?

Migration und Flucht waren immer Teil unserer Geschichte und werden uns nicht loslassen. Wir müssen damit umgehen. Deshalb ist die Diskussion um Pull-Faktoren nicht die richtige. Wir müssen darüber reden: Wie wollen wir Migration in Zukunft gestalten? Menschen werden wei­ter nach Europa kommen. Wegen der Aussicht auf ein besseres Leben oder weil sie fliehen müssen. Wenn es nicht Kriege sind, können es Klima, Hunger, Armut sein, die Menschen dazu zwingen. Das wird so bleiben, da dürfen wir nicht die Augen verschließen.

Im Koalitionsvertrag wurde eine Rückführungsoffensive angekündigt. Auch da gab es schon viele Versuche. Was soll jetzt besser funktionieren?

An der Rückführungsoffensive arbeitet das Bundesinnenministerium. Wir müssen die Herkunftsstaaten stärker in die Pflicht nehmen, im Gegenzug sollten wir legale Wege der Migration stärken.

Es gibt ja angesichts der Weltlage – Krieg, Inflation, steigende Energiepreise – ein gehöriges Maß an Verunsicherung in der Gesellschaft. Das nutzen auch Rechtsextremisten, um Stimmung gegen Migranten zu machen. Sehen Sie sich auch als Ansprechpartnerin für die Verunsicherten?

Ja, natürlich. Es sind besorgniserregende Zeiten, da ist mir die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts besonders wichtig. Wir müssen die Verunsicherung der Menschen ernst nehmen. Das betrifft übrigens alle, auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Gibt es eine rote Linie, also Leute, mit denen Sie nicht reden?

Wir müssen über alles reden, aber für mich ist klar: Mit Rechtsextremisten rede ich nicht.

Wie sollte die Bundesrepublik in 25 Jahren in einer idealen Welt aussehen?

Für mich ist die Bundesrepublik in 25 Jahren – gern schon viel früher – ein modernes Einwanderungsland, eine wehrhafte De­mokratie, eine offene, tolerante und vielfältige Gesellschaft, mit gleichen Chancen für alle und einem modernen Partizipationsrecht.