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DIE ZEIT: Frau Alabali-Radovan, in Ihrem neuen Amt als Integrationsbeauftragte müssen Sie jetzt sicher viel über Ihre Biographie sprechen. Sie sind mit 31 Jahren die jüngste Staatsministerin , die erste Ostdeutsche in diesem Amt und auch die erste mit persönlicher Fluchterfahrung.
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan: Ja, das Interesse an meiner Geschichte ist groß. Die Themen meines Amtes begleiten mich schon mein ganzes Leben, sowohl privat als auch beruflich. Und ich kann sicher eine ganz eigene Perspektive einbringen. Ich werde jedenfalls nicht vergessen, wo ich herkomme.
Was konkret ist denn Ihre Perspektive?
Die einer jungen Frau mit Einwanderungsgeschichte, aufgewachsen in Ostdeutschland.
Ihre aus dem Irak stammenden Eltern sind im Jahr 1990 nach Moskau geflohen, wo Sie auch geboren wurden, und dann 1996 nach Deutschland gekommen. Hier war Ihre erste Station die Flüchtlingsunterkunft Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Das war die Folgeeinrichtung jener Unterkunft in Rostock-Lichtenhagen, in dem im August 1992 das Pogrom stattfand. Sie kamen an zu einer Zeit, in der der Alltagsrassismus und die rassistische Gewalt vor allem im Osten massiv angestiegen sind. Wussten Ihre Eltern das?
Wenn man in Deutschland einen Asylantrag stellt, bekommt man den Wohnort zugewiesen. Meine Eltern hatten nicht Mecklenburg-Vorpommern als Ziel, aber sie hatten auch nichts dagegen. Nach meiner Erfahrung geht es vielen Flüchtenden so. Wenn man keine Verwandten im Land hat, ist der Ort meist nicht wichtig, sondern man hofft auf ein sicheres Ankommen und darauf, schnell Arbeit zu finden. Eigentlich egal, wo. Viel prägender war damals, dass die russischen Universitätsabschlüsse meiner Eltern nicht anerkannt wurden. Sie waren beide Ingenieure, heute arbeitet mein Vater seit vielen Jahren in der Gastronomie und meine Mutter im Einzelhandel. Das ähnelt durchaus manchen ostdeutschen Biographien. Viele hier mussten nach der Wiedervereinigung ja auch in anderen Berufen arbeiten.
Was lernt man in einem Flüchtlingsheim?
Mit vielen Menschen auf engem Raum zu leben. Oft wohnt man als Familie nicht allein in einem Zimmer. Man teilt auch die Küche, man teilt eigentlich alles, hat nirgendwo einen Platz für sich. Ich war damals noch sehr jung, sechs Jahre alt. Aber ich weiß aus meiner späteren Arbeit in diesen Einrichtungen - auch mit Menschen, die seit 2015 unter anderem aus Syrien kamen -, dass die Wohnbedingungen erst einmal nicht das Wichtigste sind. Man ist erleichtert, irgendwo angekommen zu sein. Erst wenn man länger in der Erstaufnahme, dann in Gemeinschaftsunterkünften leben muss, wird es zu einer Herausforderung und zu einem Thema. Am Anfang ist man einfach nur froh, in Sicherheit zu sein.
Was sind Ihre prägendsten Erinnerungen an diese Zeit?
Ich habe mit Menschen aus ganz verschiedenen Ländern zusammengelebt. Als Kind ist das schön, man findet viele neue Freundinnen und Freunde. Mein Glück war auch mein Alter. Ich wurde sofort in die erste Klasse eingeschult, musste anders als viele andere kein Schuljahr wiederholen. Für ältere Kinder oder Jugendliche, die noch stärkere Erinnerungen an ihre Heimat oder die Flucht haben, ist der Übergang oft schwieriger. Ich war jung, für mich ging es gut los.
Warum sagen Sie Flucht? Mussten Ihre Eltern Russland fluchtartig verlassen?
Unser Aufenthaltsstatus in Russland lief mit dem Ende des Studiums meiner Eltern ab, wir mussten das Land verlassen. Russland war wie ganz Osteuropa im Umbruch. Es gab eine hohe Arbeitslosigkeit, ausländerfeindliche und rassistische Einstellungen nahmen zu oder wurden offener artikuliert. Und in den Irak konnten wir nicht zurück, da meine Eltern dort politisch verfolgt wurden.
Sie kommen sicher aus einem sehr politischen Elternhaus. In welcher Sprache sprechen Sie heute mit Ihren Eltern?
Politik war bei uns stets ein großes Thema. Es liefen ständig Nachrichten oder politische Sendungen. Mittlerweile reden wir viel Deutsch, aber auch Arabisch mit irakischem Dialekt. Als wir in Moskau gelebt haben, haben wir Russisch gesprochen. Mein Russisch habe ich leider verloren. Ich kann es nur noch lesen. Dennoch würde ich sagen, ein kleiner Teil meiner Identität ist auch russisch.
Was meinen Sie damit?
Mein Lebensweg hat mich geprägt. Ich wurde in Moskau geboren und habe noch gute Erinnerungen an diese ersten sechs Jahre dort. Zum Beispiel daran, dass Weihnachten erst am 6. Januar gefeiert wurde. Ich esse und koche bis heute sehr gern russisch, zum Beispiel Borschtsch. Solche Speisen erinnern mich an meine Kindheit. Mein Leben hat mich gelehrt, dass man Identitäten nicht nur an der Herkunft festmachen kann.
Was würden Sie als Ihre Identitäten bezeichnen?
In meiner Biographie mischt sich viel. Schwerin ist mein Zuhause und Mecklenburg-Vorpommern meine Heimat. Aber ich fühle mich auch in Berlin wohl, weil ich dort studiert habe. Ich habe irakische Wurzeln und tatsächlich auch noch russische Einflüsse in mir.
Als Sie in Schwerin in die Schule gegangen sind, waren Sie sicherlich das einzige Kind mit Einwanderungsbiographie, oder?
Ja. Das ist auch ein großer Unterschied zu den migrantischen Communities in Westdeutschland. Die waren in den Neunzigern bereits viel größer, die Eingewanderten wurden in der Regel auf ihrem Weg der Integration stärker institutionell, aber auch durch ihre Verwandten und Bekannten persönlich begleitet. Das war sicher trotzdem nicht leicht, aber anders als bei mir.
Die ostdeutsche Gesellschaft ist viel homogener als die westdeutsche. Wie hat sich das für Sie bemerkbar gemacht?
Ihr Befund stimmt nicht mehr ganz. Seit 2015 hat sich auch in Mecklenburg-Vorpommern die Zahl der Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte nahezu verdoppelt, auf aktuell knapp neun Prozent. Ich persönlich habe, wie anderswo viele Eingewanderte übrigens auch, nach der Grundschule nur eine Empfehlung für die Realschule bekommen, obwohl ich gute Noten hatte. Meine Eltern haben mich dann trotzdem auf ein Gymnasium geschickt. Sie haben sich das einfach getraut. Ich hatte eine gute Schulzeit, aber ich möchte meine Biografie nicht zum Maßstab machen.
Weil sie nicht so problembehaftet ist?
Ich hatte als Schülerin kaum ein Bewusstsein für die Tatsache, dass ich einen Migrationshintergrund habe. Ich habe mich angepasst. Und sehen Sie: In Deutschland leben 22 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Wir müssen die Vielfalt ihrer Biographien anerkennen. Mein persönlicher Lebensweg greift da als exemplarisches Beispiel viel zu kurz.
Sie sind nun Integrationsbeauftragte. Wen wollen Sie eigentlich integrieren?
Über den Integrationsbegriff kann man sicherlich streiten, aber so heißt das Amt nach dem Gesetz. Die neue Regierung mit Bundeskanzler Olaf Scholz hat klar benannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Alle sollen die Chance erhalten, ihre Potenziale einzubringen . Ich sehe mich als Vermittlerin zwischen der Politik und den migrantischen Communities, Verbänden und all den Menschen, die sich mit Integration beschäftigen.
Inwiefern kann man über den Integrationsbegriff streiten?
Es gibt keine einheitliche Definition. Geht es um Eingewanderte und ihre Kinder? Oder geht es um Teilhabe für alle in unserem Land, egal welcher Herkunft? Wir diskutieren ja inzwischen auch über andere Formulierungen: darüber, ob Menschen mit Migrationshintergrund“ ein passender Begriff ist oder eher „Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte“. Ich benutze letzteren.
In Wahrheit ist der Begriff Integration nicht mehr recht tauglich. Vor allem für jene Post-Migranten, die seit vielen Generationen hier leben. Fühlen Sie sich vor allem für jene zuständig, die erst jüngst gekommen sind?
Mir geht es um alle Menschen in unserem Land, um Zusammenhalt und Respekt für jeden und jede. Ich bin Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration. Themen wie Diversität, Antirassismus oder gute Zugänge zu Arbeitsmarkt und Bildung gehören da unbedingt dazu.
Aber ist die Integration von Geflüchteten nicht etwas anderes als das Engagement für mehr Diversität? Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte?
Es gibt mehrere: Mehr Diversität ist mir ganz wichtig, insbesondere im öffentlichen Dienst. Zudem werden wir die Einbürgerung vereinfachen und die Mehrfach-Staatsbürgerschaft möglich machen. Ich glaube, vielen in Deutschland ist gar nicht bewusst, wie wichtig dieser Schritt ist. Bislang darf man seine frühere Staatsangehörigkeit in der Regel nicht behalten, wenn man Deutsche oder Deutscher wird. Und ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit wird der Kampf gegen Rechtsextremismus sein. Hier sehe ich aktuell die größte Bedrohung unserer Demokratie und werde Seite an Seite mit Bundesinnenministern Nancy Faeser arbeiten.
In der Ampel wird über viele Themen gestritten. Ihr Bereich gehört nicht dazu.
Ja, das wurde auch Zeit! So viele Jahre war es ein elender Kampf. Jetzt spüre ich den Aufbruch, dass die neue Bundesregierung diesem Thema aufgeschlossen und fortschrittlich gegenübersteht.
Werden Sie für eine Quote kämpfen?
Mit einer Quote bin ich in diesem Bereich vorsichtig. Wir werden ein Partizipationsgesetz für den Bund auf den Weg bringen. Es soll dafür sorgen, dass mehr Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte im öffentlichen Dienst arbeiten. Rückblickend muss man sagen, dass im Bereich Diversität noch nicht so viel versucht wurde.
Wäre es bei der Größe der Aufgabe nicht besser gewesen, Ihr Haus zu einem eigenen Ministerium zu machen?
Das Kanzleramt ist der richtige Ort für dieses wichtige Querschnittthema. Dadurch, dass ich direkt bei Bundeskanzler Olaf Scholz angesiedelt bin, werde ich besonders eng mit ihm zusammenarbeiten.
Ihre Vorvorgängerin Aydan Özoguz hat damals stark in die migrantischen Milieus hinein kommuniziert. Gerade nach der Enttarnung des NSU war dort viel Vertrauen in staatliche Behörden verloren gegangen. Frau Widmann-Mauz repräsentierte eher die Mehrheitsgesellschaft. Wer wird Ihr Adressat sein?
Das ganze Land. Ich will hier gar keine Grenzen ziehen. Mir ist wichtig, mit allen im Austausch zu sein. Und migrantische Communities sind ja auch genauso divers wie unser Land. Die Forderungen unterscheiden sich bisweilen stark. Was Sie von DaMOst, dem Dachverband der Migrantenorganisationen in Ostdeutschland hören, ist anderes als das, was von großen westdeutschen Verbänden kommt.
Wo liegen die Unterschiede?
Die Schwerpunkte sind andere. Für die Verbände im Osten stehen oft ganz praktische Fragen im Vordergrund. Im Westen ist über die Jahrzehnte der Kampf gegen strukturelle Hürden wichtiger geworden. Da geht es darum, dass viele Menschen trotz ihres Deutschseins immer noch benachteiligt werden.
Das Jahr 2015 mit der Krise um die Geflüchteten und dem Aufstieg der AfD war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Sie persönlich sind in jener Zeit nach Schwerin zurückgekehrt, um dort in der Erstaufnahmeeinrichtung Horst zu arbeiten, in der Sie als Kind für ein paar Wochen gelebt haben. Wie war das?
Viele der Herausforderungen und Konflikte, die es zuvor auch gab, sind seitdem deutlicher und sichtbarer geworden. Die Fälle von rechtsextremer Gewalt haben in den zurückliegenden Jahren zugenommen, ohne Zweifel. Aber ich erinnere mich auch an positive Momente. Auch im Osten haben sich so viele Menschen wie nie zuvor für Geflüchtete engagiert. Ich kenne ein älteres Ehepaar aus Schwerin, das einen deutsch-arabischen Verein gegründet hat. Ich kenne Sporttrainer, die für das Aufenthaltsrecht oder einen Arbeitsplatz ihrer Schützlinge kämpfen. Von solchen Geschichten gibt es viele.
Nun jährt sich im Sommer das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum 30. Mal. Was planen Sie dazu?
Der Anschlag auf das Sonnenblumenhaus geschah aus teilweise rechtsextremen Kreisen und aufgrund rassistischer Einstellungen. Wir dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen damals mitgemacht oder nichts gegen die Gewalt getan haben. Das Gedenken muss Mahnung an alle sein, dass so etwas nie wieder passieren darf. Gleichzeitig weiß ich auch aus meiner Zeit als Integrationsbeauftragte von Mecklenburg-Vorpommern, dass gerade in Rostock in den Jahren nach 1992 viele Initiativen gegründet wurden. Ich kenne den dortigen Migrantenrat sehr gut, genau wie die Akteure von „Bunt statt Braun Rostock“. Auch das muss gewürdigt werden.