„Hanau war eine richtige Zäsur“

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Rheinische Post: Frau Alabali-Radovan, der rechtsextreme Anschlag von Hanau jährt sich am 19./20. Februar zum zweiten Mal. Erinnern Sie sich noch daran, wo Sie waren, als Sie davon erfahren haben?

Staatsministerin Reem Alabali-Radovan Ja, das war für viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte ein einschneidendes Erlebnis, eine richtige Zäsur. Ich bin wie alle mit den Eilmeldungen aufgewacht. Im Laufe des Tages dann die schreckliche Gewissheit. Dieser Schock, dieses ‚Jetzt ist es passiert‘, das hat sehr viele mit eigener Rassismus-Erfahrung ins Mark getroffen. Viele Menschen haben lange vorher gespürt, wo Alltagsrassismus, Hass und Hetze in letzter Konsequenz enden kann. Vergessen wir nicht den Mord an Walter Lübcke oder den antisemitischen Anschlag von Halle. Diese Taten fanden kurz vor Hanau statt.

Hat die Gesellschaft nach Hanau besser reagiert als nach der NSU-Mordserie, wo der Staat über Jahre bei der Aufklärung versagte und die Opfer lange kaum Erwähnung fanden?

Alabali-Radovan Wichtig bei Hanau ist, dass es die Familien, die Angehörigen geschafft haben, zusammen zu stehen und aus eigener Kraft immer wieder an das Schicksal der Ermordeten zu erinnern. Sie haben nicht über den Täter geredet. Dadurch haben sie gezeigt, dass die Getöteten Teil unserer Gesellschaft, aus unserer Mitte sind. Sehr viele Menschen konnten sich mit ihnen identifizieren. So geht es mir auch. Es hätten meine Freundinnen und Freunde sein können. Das hilft gegen das Vergessen, damit so etwas wie Hanau nie wieder passiert. Bei den NSU-Morden war es anders, kaum jemand erinnert sich, wer ermordet wurde. Dafür wissen wir umso mehr, wer die Täter waren. Wir kennen das Trio, wir kennen die Geschichte hinter den Tätern. In Hanau aber haben es die Familien geschafft, den Diskurs zu ändern, den Blick auf die Getöteten zu lenken. 

Bekommen Angehörige von Terroropfern ausreichend staatliche Unterstützung?

Alabali-Radovan Es gibt finanzielle Härteleistungen, die Betroffene nach Anschlägen erhalten. Wir müssen den Opferschutz aber umfassender denken. Es geht nicht nur um finanzielle Entschädigungen, sondern wie die Menschen vor Ort behandelt werden, wie die Behörden mit den Angehörigen umgehen. Es geht um Mitgefühl und Würde. Da gibt es noch einiges zu tun. 

Bei sogenannten Corona-Spaziergängen mischen Rechtsextremisten ungeniert mit, andere Teilnehmer sehen keinen Grund, sich zu distanzieren – gerät da etwas ins Rutschen?

Alabali-Radovan Es macht mir große Sorgen, was für Netzwerke da entstanden sind. Ich teile die Einschätzung des Bundespräsidenten, der davor gewarnt hat, dass solche Netzwerke auch für andere Themen genutzt werden könnten – etwa beim Klimawandel. Auch sehe ich die Gefahr, dass Rechtsextreme das Lager der Corona-Leugner dazu benutzen, feindliche Stimmung gegen Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu schüren. 

Unternimmt der Staat alles, was nötig ist, um die Demokratie zu stärken und Rassismus zu bekämpfen?

Alabali-Radovan Wir haben den Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, der nach Hanau eingesetzt wurde. Die meisten Menschen, die Rassismus erfahren, wissen jedoch oft gar nicht, an wen sie sich wenden können. Wir müssen Beratungsstellen stärken und bekannter machen. Persönlich wünsche ich mir, dass wir alle gemeinsam, die Gesellschaft, stärker gegen Rassismus aufstehen und lauter werden. Nehmen wir den Fall der 17-jährigen Dilan in Berlin. Ich frage mich, warum hat niemand Dilan an der Tramhaltestelle geholfen, wo war Zivilcourage, warum hat die Polizei den eindeutig rassistischen Überfall nicht sofort als solchen eingeordnet? 

Braucht es bundesweit mehr Fokus bei der Impfkampagne auf Bürger mit Einwanderungsgeschichte?

Alabali-Radovan Die Impfaktionen, die besonders niedrigschwellig und quasi vor der Haustür der Menschen stattfinden, sind bislang die erfolgreichsten. Dieses aufsuchende Angebot samt Beratung ist der richtige Weg. Wir bieten Aufklärung in 23 Sprachen an. Und es hilft auch, über anderssprachige Radio- und Fernsehsender, die in Deutschland ihr Programm senden, zur Impfung aufzurufen. Da setzen wir mit der aktuellen Kampagne noch stärker an. . 

Nehmen Sie Vorbehalte bei eingewanderten Menschen wahr, eine Karriere im öffentlichen Dienst anzustreben?

Alabali-Radovan Tatsächlich ist es so, dass viele junge Menschen, die nicht in Deutschland geboren wurden, den Staat als möglichen Arbeitgeber kaum auf dem Schirm haben. Das habe ich auch im persönlichen Umfeld gespürt, als ich vor einigen Jahren im Ministerium in Mecklenburg-Vorpommern beworben habe. Die Reaktionen von Freunden oder Familie waren teilweise von Erstaunen geprägt. Um Vorbehalte auf beiden Seiten abzubauen und auch den Blick der Behörden auf eingewanderte Menschen zu schärfen, braucht es mehr Vielfalt. Da sollte der Bund vorangehen und gezielter einstellen.

Und eine Migrationsquote in den Ämtern?

Alabali-Radovan Damit wäre ich vorsichtig. Zunächst müssen wir erstmal alle möglichen Maßnahmen ausschöpfen, da ist Luft nach oben. Mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland bringen eine Einwanderungsgeschichte mit, das muss sich widerspiegeln – in Polizei, Schulen und Kommunen. Wir werden vorangehen und eine Diversitätsstrategie vorlegen, wie mehr Menschen mit Migrationsgeschichte für den öffentlichen Dienst gewonnen werden können. 

Wird Ihnen persönliche eine Vorbildrolle zugeschrieben?

Alabali-Radovan Ich bin ungern ein Aushängeschild. Aber ich freue mich, wenn ich insbesondere junge Frauen dafür begeistern kann, wofür ich stehe. 

Was kann getan werden, um die Schulabbrecherquote unter Kindern mit Migrationshintergrund zu senken, die durch Corona rapide zu steigen droht?

Alabali-Radovan Auch wenn der öffentliche Eindruck vielleicht ein anderer ist, haben Bund und Länder in den vergangenen zwei Pandemiejahren viel dafür getan, besonders unter Druck geratene Kinder extra zu fördern. Insbesondere die Kinder geflüchteter Personen sind hart getroffen worden von der Pandemie. Ich werde bald mit der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Karin Prien dazu ins Gespräch kommen. Auch wenn die Inzidenzzahlen zurückgehen, bleiben die Folgeprobleme durch Corona. 

Was muss beim Einwanderungsrecht passieren, um mehr Fachkräfte für Deutschland zu gewinnen?

Alabali-Radovan Es gibt ja bereits ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz in Deutschland, das ist gut. Doch die gezielte Einwanderung von Arbeitskräften ist durch die Pandemie stark zurückgegangen. Wir brauchen einen Neustart der Fachkräfte-Zuwanderung. Hürden sind nach wie vor lange Prüfverfahren oder die schwierige Anerkennung von Berufsabschlüssen. Da muss Deutschland besser werden. Dafür werde ich mich zusammen mit Arbeitsminister Hubertus Heil einsetzen. 

Haben Sie Sorge, dass die Zahl der Asylanträge stark steigen könnte?

Alabali-Radovan Wir beobachten aktuell eine Zunahme, die durch die Krisen in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas angetrieben wird. Im Januar gab es 14.000 Asylerstanträge, das ist gut leistbar für unser Land. Aber die Bundesländer machen alles richtig, wenn sie an den seit 2015 bestehenden Strukturen für die Aufnahme geflüchteter Personen festhalten, insbesondere den Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften und Anlaufstellen für die Integration.