- Interview mit
- Neue Osnabrücker Zeitung
Neue Osnabrücker Zeitung: Frau Staatsministerin, warum hat der Staat so lange gebraucht, um Verteilung und Unterbringung der Menschen, die aus der Ukraine zu uns flüchten, zu organisieren?
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan: Weil die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die visumsfrei nach Deutschland kommen, sich nicht registrieren lassen müssen. Die Alternative wären Grenzkontrollen, die hat man aus guten Gründen auch innerhalb der EU abgelehnt. Es kommen vorwiegend Frauen mit ihren Kindern und ältere Menschen. Ich finde es richtig, dass wir sie nicht an der Grenze kontrollieren. Alle Beteiligten sind seit Tag eins rund um die Uhr im Einsatz. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist seit dem ersten Tag im engen Austausch mit ihren Länderkolleginnen und -kollegen, ich bin es ebenfalls. Alle arbeiten unter Hochdruck, damit diese nationale Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen gelingt. Bislang sind mehr als 300.000 Geflüchtete angekommen. Viele kommen in Berlin an, hier hilft der Bund - wie in allen 16 Ländern - mit der Bundeswehr, der Bundespolizei, mit Technischem Hilfswerk, mit Registrierung. Es ist herausragend, wie stark die Ehrenamtlichen und Hilfsorganisationen gemeinsam anpacken.
Berlin war wochenlang heillos überfordert. Warum wurden die Neuankömmlinge nicht schneller bundesweit verteilt?
Ukrainische Staatsangehörige mit biometrischem Pass dürfen sich 90 Tage lang frei in Deutschland und der EU bewegen und damit aufhalten, wo sie möchten. In den ersten Tagen des Krieges sind vor allem diejenigen gekommen, die Verwandte und Freunde hier haben. Sie einfach irgendwohin zu verteilen, wäre weder möglich noch sinnvoll gewesen. Inzwischen haben viele kein konkretes Ziel mehr, sie suchen einfach eine sichere Zuflucht. Darum ist es richtig, sie in ganz Deutschland unterzubringen, damit kein Landkreis, keine Stadt überlastet wird. Seit dem 17. März läuft dieses Verfahren und das klappt von Tag zu Tag besser. Bund und Länder organisieren auch mit Sonderzügen und Bussen die Verteilung. Neben Berlin sind in Hannover und Cottbus zwei weitere Drehkreuze eingerichtet.
Es kommen täglich mehr. Stößt Deutschland womöglich schon bald an Kapazitätsgrenzen, wird schon bald wieder über eine Obergrenze gestritten?
Die meisten Menschen sind nach Polen geflohen, bereits mehr als 2 Mio. Menschen. Für uns ist klar, dass wir unseren osteuropäischen Nachbarn helfen. Wir nehmen alle aus der Ukraine auf, die vor den grausamen Bombenangriffen bei uns Schutz suchen. Wichtig ist aber auch, dass wir über eine europaweite Verteilung sprechen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir diesmal in Europa gemeinsam solidarischer sind als in den letzten Jahren.
Gleichwohl: Kommunen und Länder fürchten schon bald an ihre Kapazitätsgrenzen zu gelangen, rufen laut nach finanzieller Unterstützung vom Bund…
Es steht außer Frage, dass der Bund die Länder und Kommunen unterstützt, auch finanziell. Bund und Länder haben sich sehr schnell über die Verteilung, Aufnahme und Registrierung der Geflüchteten verständigt und vereinbart, bis zum 7. April, bei der nächsten Konferenz des Bundeskanzlers mit den 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, einen Vorschlag zu den Finanzierungsfragen zu machen.
Viele Geflüchtete sind bei Privatpersonen untergekommen. Würden Sie an Bürgerinnen und Bürger appellieren, weiterhin Menschen aus der Ukraine bei sich aufzunehmen?
Diese Solidarität ist großartig. Ich bedanke mich bei allen, die in den ersten Wochen Kriegsflüchtlinge bei sich zuhause beherbergt haben, ihnen persönlich zur Seite stehen. Aber wir dürfen niemanden überlasten und es ist sicher keine Dauerlösung, wenn z.B. eine geflüchtete Frau mit Kind in einem Wohnzimmer auf der Couch unterkommt. Der Staat sorgt für Unterkunftsplätze. Der Bund hat eigene Liegenschaften mit mehr als 50.000 Plätzen bereitgestellt, Länder und Kommunen tun das ihre. Etwas Anderes sind die privaten Angebote zur Unterbringung etwa in Ferienwohnungen. Das Bundesinnenministerium hat dazu eine Kooperation mit großen Portalen gestartet, was ich begrüße.
Wie groß ist die Gefahr gerade von geflüchteten Frauen, von vermeintlichen Helfern ausgebeutet, ja missbraucht zu werden?
Der Gedanke ist schrecklich, dass Frauen und Kinder in die Hände von Kriminellen gelangen könnten. Die Polizeien von Bund und Ländern sind massiv an Bahnhöfen und Busstationen präsent - auch in zivil - um die Gefahr zu bannen. Zudem arbeitet die Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel im Bundesfamilienministerium daran, für maximalen Schutz zu sorgen. Sämtliche Hilfsangebote für Frauen sind auch in ukrainischer Sprache verfügbar, darüber wird aktiv vor Ort informiert. Es liegen einzelne Meldungen über beunruhigende, auch frauenverachtende „Hilfsangebote“ vor, unsere Sicherheitsbehörden gehen konsequent jedem Hinweis nach, verfolgen jeden Anfangsverdacht.
Warum wurden nicht von Beginn an alle Neuankömmlinge registriert?
Wir leben im Schengenraum mit offenen Grenzen innerhalb der EU. Einreisende können nicht ohne weiteres kontrolliert werden. Die Situation war in den ersten Tagen auch einfach dramatisch: Frauen, Kinder, ältere Menschen haben teils 70 Stunden an der ukrainisch-polnischen Grenze festgesessen. Sollten wir sie dann nochmals an der deutschen Grenze aufhalten und für massive Warteschlangen sorgen?. Nein, das wäre keine Lösung gewesen. Die Registrierung erfolgt in allen Bundesländern nach der Einreise, natürlich auch in den großen Ankunftszentren. Alle, die eine staatliche Unterbringung brauchen und Zugang zu Sozialleistungen in Deutschland, müssen sich registrieren – und das machen auch immer mehr.
Worauf kommt es jetzt an, um die Menschen zügig zu integrieren?
Alle Geflüchteten aus der Ukraine können einen Aufenthaltstitel nach § 24 Aufenthaltsgesetz erhalten. Damit dürfen sie sofort arbeiten, haben Zugang zu Integrationskursen, Krankenschutz und die Kinder können in Kita und Schule. Anders als 2015 ermöglichen wir jetzt konsequent Integration von Anfang an – ganz egal, wie lange die Menschen hierbleiben werden. Das ist ein gewaltiger Fortschritt.
Viele Afghanen und Syrier fühlen sich genau deswegen als Flüchtlinge zweiter Klasse, leben teils noch immer in Sammelunterkünften, habe keinen so sicheren Status…
Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben, das ist mir ganz wichtig! Alle Menschen, die aus der Ukraine fliehen, finden bei uns Schutz, egal welcher Herkunft. Und wir vergessen auch nicht die Menschen aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak, die bei uns Schutz suchen.
Für Geflüchtete aus der Ukraine gibt es jedoch eine andere Rechtsgrundlage: In einem gemeinsamen Beschluss hat die EU erstmalig ermöglicht, dass sieine in der gesamten EU als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden – ohne Einzelfallprüfung. Ich kann natürlich verstehen, wenn sich manche dadurch benachteiligt fühlen, die schon länger hier sind und sich nicht frei im Land bewegen durften. Ich will aber ausdrücklich betonen, dass die neue Bundesregierung auch für Asylsuchende vieles bei der Integration erleichtern wird. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, Integrationskurse von Beginn an für alle zu öffnen. Wir werden ein Chancenbleiberecht schaffen, wonach Geduldete, die einen Job haben, auch einen sicheren Aufenthaltstitel erhalten. Das gehen wir jetzt an und das ist gut so. Man merkt: Aufbruch und Fortschritt regieren das Land, das ist 2022 anders als 2015.
Ziehen Länder und Kommunen da wirklich mit?
Alle sind mit hohem Engagement rund um die Uhr im Einsatz. Strukturen vor Ort müssen wieder hochgefahren und ausgebaut werden. Und wir stellen jetzt die Weichen auf Integration – egal wann eine Rückkehr in die Heimat wieder möglich sein sollte. Auch dafür müssen wir die Finanzierung sicherstellen.
Wird schon bald innerhalb der EU wieder um die Verteilung der Flüchtlinge gestritten?
Die EU geht diese Herausforderung gemeinsam an in einem historischen Schulterschluss. Es ist hervorragend, was z.B. Polen leistet, es nimmt gerade die allermeisten Geflüchteten auf, und die meisten möchten gerne dortbleiben, aufgrund der Nähe zur Heimat, zu ihren Liebsten, die zurückbleiben mussten. Auch Rumänien oder die Tschechische Republik empfangen die Menschen mit offenen Armen. Das ist bewundernswert, denn dort gibt es nicht die finanziellen Ressourcen und logistischen Kapazitäten zur Unterbringung wie bei uns. Deswegen leisten wir auch viel Unterstützung für unsere osteuropäischen Nachbarn. Wir tun alles, um beispielsweise Moldawien zu entlasten, auch mit Direktflügen in die EU. Meine norwegische Kollegin hatte mir kurzerhand zugesagt, sich an der Aufnahme aus Moldawien beteiligen zu wollen – und das auch direkt umgesetzt. Die Gespräche auf EU-Ebene laufen auf Hochtouren, um eine gute Verteilung in allen 27 Mitgliedstaaten, aber auch die USA, Kanada und Großbritannien einzubinden.
Zum Abschluss zu Ihrer Partei: Die SPD hat lange um ihren Russland-Kurs gerungen. Das SPD-regierte Mecklenburg-Vorpommern hat ganz auf Nordstream II gesetzt, dafür extra eine umstrittene Stiftung eingerichtet. Muss sich die SPD wegen ihrer Naivität gegenüber Wladimir Putin ein Stück weit mitverantwortlich fühlen gegenüber den Ukrainern, die jetzt vor Putins Bomben fliehen müssen?
Nein, für diesen grausamen Krieg ist Putin verantwortlich. Nordstream II wurde von der Großen Koalition unter Führung von Angela Merkel beschlossen. Putins Krieg ist eine Zeitenwende und es ist völlig richtig, dass die angesprochene Klimastiftung abgewickelt wird. Meine Partei, Bundeskanzler Olaf Scholz und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig stehen fest an der Seite der Ukraine. Wir helfen mit allem, was wir können - auch mit Waffenlieferungen. Das war sicher keine einfache Entscheidung, aber konsequent und richtig. Die Ukraine kann sich auf unsere Hilfe verlassen.
Ein Bedauern über die Moskau-Nähe in vielen Teilen der SPD, in MV, die gibt es aber nicht?
Die SPD hat sich immer für Verständigung, Dialog und offene Kommunikationskanäle der EU mit Russland eingesetzt. Das hat Putin zertrümmert. Die SPD und die Bundesregierung tun alles, damit der verheerende Angriffskrieg so schnell wie möglich beendet wird – fest an der Seite der Ukraine.