- Interview mit
- Deutscher Olympischer Sportbund
Deutscher Olympischer Sportbund: Frau Alabali-Radovan, wenn Sie die derzeitige Flüchtlingssituation mit der von 2015/2016 vergleichen, worin bestehen die größten Unterschiede?
Der größte Unterschied besteht in der gemeinsamen Solidarität, insbesondere in der Frage der rechtssicheren Lage der Geflüchteten. Wir haben in der EU gemeinsam den historischen Beschluss gefasst, dass alle Geflüchteten aus der Ukraine sofort Schutz und einen Aufenthaltstitel erhalten, der ihnen unmittelbar Zugang zum Arbeitsmarkt zu Sozialleistungen, Schule und Integrationskursen ermöglicht. Das ist gute Integrationspolitik und ich möchte, dass das so schnell wie möglich für alle Geflüchteten auch aus anderen Ländern gilt. Dafür setze ich mich ein.
Die ukrainische Regierung möchte aber nicht, dass Kinder und Jugendliche ins deutsche Bildungssystem eingegliedert werden. Sie sollen in eigenen Klassen untergebracht, und nach ukrainischen Schulplänen und in ukrainischer Sprache unterrichtet werden.
Ich kann verstehen, dass die Menschen mit ihren Familien am liebsten schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren möchten. Und wir alle hoffen und tun alles dafür, dass der Krieg bald beendet ist und alle wieder nach Hause können! Aber das haben auch viele der syrischen Geflüchteten 2015 gehofft. Es ist beeindruckend zu sehen, dass viele Kinder in Deutschland aktuell per Online-Schulunterricht aus der Ukraine direkt weiterlernen. Der Zugang in unser Schulsystem ist für die Kinder allerdinge ein wichtiger Schritt für ein gutes Ankommen. Feste Strukturen und neue Freunde können den Kindern in dieser schwierigen Situation helfen.
Welche Lehren von damals sind jetzt besonders hilfreich?
Erstmal sollen die Menschen zur Ruhe kommen, eine sichere Zuflucht und Frieden finden. Aber wir konzentrieren uns auch direkt darauf, gute Integrationsmöglichkeiten von Anfang an zu bieten Dazu werden wir gezielt Projekte wieder hochfahren und auch neu schaffen. Ganz besonders wichtig für ein gutes Ankommen sind neben Schule und Kita natürlich eine Beschäftigung, Berufsbildung und passender Wohnraum. Deshalb haben Bundeskanzler Olaf Scholz und ich nach Ostern Vertreter*innen von Bund, Ländern, Kommunen und Hilfsorganisationen zum Gespräch ins Kanzleramt eingeladen, und sind auch mit dem DOSB in engem Austausch, wo weiter Bedarfe bestehen.
Diesmal kommen vor allem Frauen, Kinder, Senioren …
Ja, in Berlin sind rund Zweidrittel der Geflüchteten Kinder, aber auch viele Ältere sind dabei. Deshalb brauchen wir Angebote, die sie gezielt unterstützen. Und wo wir ja gerade dabei sind: hier kann der Sport sehr gut helfen.
Ist der Zugang zum Sport eher eine kulturelle oder eine soziale Frage?
Meine Erfahrung ist, dass die soziale Herkunft durchaus eine Rolle spielt. Ich komme aus Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern. Schwerin ist bekannt für Spitzensport, hat einen Olympiastützpunkt. Doch in meiner Jugend habe ich erlebt, dass es Sportarten gab, die wirtschaftlich besser aufgestellten Menschen leichter zugänglich sind. Segeln beispielsweise, was in Schwerin eine große Rolle spielt, wirkte auf mich wie eine geschlossene Veranstaltung. Meine Hoffnung ist, dass sich die Diversität unseres Landes perspektivisch auch in der Offenheit der Sportarten widerspiegelt.
Sie selbst boxen …
Na ja (lacht), damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich boxe nur freizeitmäßig, ich mache keine Wettkämpfe. Während der Schulzeit sind viele meiner Schulfreund*innen in Sportvereinen gewesen, beim Segeln, Schwimmen oder in der Leichtathletik. Das hat mich damals alles nicht angesprochen.
Fühlten Sie sich ausgeschlossen?
Meine sportliche Heimat habe ich erst so richtig gefunden, als ich nach Berlin gezogen bin - bei einem Verein in Kreuzberg, den Boxgirls Berlin (siehe Porträt Doha Taha Beydoun, eine der Trainerinnen des Vereins, Anm. die Red.). Dass der Verein explizit feministisch, antirassistisch und interkulturell aufgestellt ist, hat mich sehr angesprochen. Und genauso, dass der Verein in einigen Ländern Afrikas Projekte durchführt, um Mädchen das Boxen beizubringen und dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Ihre Eltern waren in Bezug auf den Sport kein Vorbild?
Meine Eltern waren selbst keine aktiven Sportler*innen, aber sie sind beide leidenschaftliche Fußballfans. Fußball spielte im Irak immer schon eine große Rolle. Besonders populär sind dort der FC Barcelona und Real Madrid. Ein Sprichwort lautet sinngemäß: Man unterscheidet im Irak nicht zwischen Sunniten und Schiiten, sondern zwischen Fans der beiden Fußballclubs. Die Iraker sind eine fußballverrückte Nation.
Zum Bundesprogramm „Integration durch Sport“ gehört das Projekt GeniAl, bei dem es um die physische und psychische Gesundheit älterer Menschen mit Migrationsgeschichte geht, vermittelt werden soll das über den Sport.
Das ist ein schönes Projekt und ein wichtiges Thema für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte - gerade auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in Deutschland. Die Möglichkeit zum Sporttreiben ist aber eben auch eine soziale Frage. Viele Menschen haben während ihres Arbeitslebens gar keine Zeit für Sport. Bedeutung erlangt das Thema dann erst, wenn sie in Rente gehen und mehr Muße haben.
Ihr großes Anliegen ist der Kampf gegen den Rassismus, ein Thema, bei dem es auch im Sport nicht überall zum Besten steht.
Es ist toll zu sehen, wie viele Vereine in ganz Deutschland klare Kante gegen Hass und Rassismus zeigen. Mein Verein in Schwerin zum Beispiel, der BC Traktor, setzt sich intensiv für Toleranz und gegen Rassismus ein, ein sehr überzeugendes Engagement. Aber ich habe vielerorts schon sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht und auch Rassismus erlebt, vor allem im Fußball - nicht nur von den Rängen, auch auf dem Platz. Da gibt es noch viel zu tun.
Sind sie damit auch in ihrem Job konfrontiert?
Wie viele andere auch, die sich politisch gegen Rassismus und Rechtsextremismus einsetzen erlebe ich viel Hass und Hetze im Netz, in den sogenannten sozialen Medien.
Können Sie solche Anfeindungen ausblenden?
Je nach Tagesform und von wem es kommt, aber ganz ausblenden kann ich solche Kommentare nicht. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung aktiv gegen Hass und Hetze im Netz stark macht.
Sie sind eine Frau, sie sind jung, haben eine Fluchtgeschichte und gelten deshalb als Paradebeispiel für gelungen Integration. Geht Ihnen diese Rolle schon auf die Nerven?
Ich kann das Interesse verstehen, deshalb gehe ich damit auch offen um und zeige, welche Erfahrungen ich persönlich gemacht habe – wohl wissend, dass sie nicht repräsentativ sind. Mein Fokus liegt aber auf meiner inhaltlichen Arbeit: dem Kampf gegen Rassismus, gleiche Chancen für alle Menschen, gelingende Integration. Darauf konzentriere ich mich.
Dieses Gespräch beweist, dass es nach wie vor auch um Ihre persönlichen Erfahrungen geht …
Ich freue mich natürlich, wenn ich motivieren und Mut dazu machen kann, dass man nicht verstecken muss, woher man kommt.
Es gab schon Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die hatten keine persönliche Migrationsgeschichte. Ist die aus Ihrer Sicht notwendig für den Job?
Ich denke, es ist ein Vorteil, wenn man eine eigene Einwanderungsperspektive einbringen kann, wenn man weiß, wie sich das anfühlt. Aber wichtiger scheint mir, dass man in dieser Funktion auf berufliche Erfahrungen zurückgreifen kann, wie ich sie durch meine vorherige Tätigkeit als Integrationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern sammeln konnte. Ich habe viele Kolleg*innen, die keine eigene Migrationserfahrung mitbringen, aber mit Herzblut und Überzeugung unterwegs sind. Das ist es, was zählt. Es um eine neue Politik des Fortschritts und Aufbruchs für ein modernes Einwanderungsland.